Das lass ich mir doch nicht zweimal sagen...
Melkor kann durchaus etwas dafür. Er missbraucht sein zweitschöpferisches Potenzial, weil er primärschöpferisch tätig sein will. Jetzt könnte man sagen:
Der springende Punkt ist: Melkor kann nicht primärschöpferisch tätig sein, ebenso wenig wie Aule. Beide sind Geschöpfe, selbst "nur" geschaffen von demjenigen, der alleiniger Schöpfer ist: Eru. Es geht hier nicht um ein Verbot, sondern um eine grundsätzliche Tatsache. Melkor erkennt diese Tatsache nicht an. Aule auch nicht. Es ist auch leicht nachvollziehbar, wieso. Tolkien sagt es in seinem Märchenaufsatz selbst: Jeder Zweitschöpfer, jeder, der irgendwie kreatives Potential in sich trägt, wünscht sich doch, seine fantastischen Schöpfungen könnten real werden. Dazu ist aber niemand in der Lage. Kein Vala, kein Maia, kein Elb, kein Mensch, auch kein moderner Mensch mit noch so viel technischem Knowhow. Aule erkennt das schließlich an; Melkor nicht.
Das theologisch Spannende an Tolkiens Werk ist, dass er genau das behauptet. Schlicht gesagt meint Tolkien: Die Gottebenbildlichkeit des Menschen liegt gerade in seiner Fähigkeit, zweitschöpferisch tätig zu sein. In seiner Fantasie (nicht in technischer Veränderung der Primärwelt, sondern zweitschöpferisch in der imaginären Erschaffung völlig neuer Welten und Wesen) ist der Mensch Ebenbild des Schöpfers. Der Wunsch, schöpferisch tätig zu sein, liegt also tief in der Natur des Menschen verankert, und indem der Mensch fantastisch-kreativ tätig ist verwirklicht er seine edelste Aufgabe.
Die Ainulindale übersetzt diese Überzeugung in eine Erzählung. In den Ainur schlummert der Wunsch, schöpferisch tätig zu sein, ja, es ist schlechthin ihr Daseinsgrund! Eru lehrt sie, ihre Fähigkeiten zu nutzen, um schließlich in Harmonie eine Große Musik zu spielen. Dass daraus schließlich Arda entsteht zeigt die großartigen Möglichkeiten, die in dieser Fähigkeit liegen - immer rückgebunden an die Gemeinschaft der Ainur und an Eru als Initiator und Schöpfer. Am Beispiel Melkors macht Tolkien aber auch den möglichen Missbrauch deutlich.
Melkor ist der größte und mächtigste aller Ainur, und er hat Anteil an den Fähigkeiten aller seiner Geschwister. Damit ist er einer großen Gefahr ausgesetzt, der er schließlich auch verfällt: Der Gefahr zu glauben, er könne das Gesamtwerk überblicken, und dem daraus folgenden Schluss, er wäre in der Lage es zu optimieren - mit Gewalt. Er will besitzen, er will herrschen, er will kontrollieren. Diese Einstellung, die Melkor verkörpert, ist übrigens hochaktuell! Wir leben in einer durch und durch technisierten Gesellschaft, die allen Ernstes glaubt, durch technische Veränderung der Primärwelt mit Hilfe von z.B. Genmanipulation unsere Welt kontrollieren und verbessern oder gar das Leid oder den Tod besiegen zu können. Tolkien stand diesem technischen Machbarkeitswahn zutiefst skeptisch gegenüber. Er war sich der Grenzen menschlicher Machbarkeit immer bewusst. Sein Konzept der Zweitschöpfung trachtet nicht danach, gewaltsam in die Primärwelt einzugreifen. Es basiert auf der Einsicht, dass niemand je das Ganze überblicken kann, niemand je die Wahrheit in Reinform finden kann. Nur in einer grundsätzlichen Offenheit und Liebe gegenüber der Welt - gegenüber dem begrenzten Teil der Welt, den ich kenne und wähle - um ihrer selbst Willen ist es möglich, sie immer besser zu verstehen, ihre Möglichkeiten und Grenzen wahrzunehmen und zu akzeptieren und entsprechend ihrer Anlagen respektvoll zu nutzen. Über Tom Bombadil schrieb er in einem Brief: „He is master in a peculiar way: he has no fear, and no desire of possessions or domination at all. He merely knows and understands about such things as concern him in his natural little realm. He hardly even judges, and as far as can be seen makes no effort to reform or remove even the Willow. ... he is ... a particular embodying of pure (real) natural science: the spirit that desires knowledge of other things, their history and nature, because they are ‘other’ and wholly independent of the enquiring mind, a spirit coeval with the rational mind, and entirely unconcerned with ‘doing’ anything with the knowledge: Zoology and Botany not Cattle-breeding or Agriculture. ... Also T[om] B[ombadil] exhibits another point … You must concentrate on some part, probably relatively small, of the World (Universe), whether to tell a tale, however long, or to learn anything however fundamental – and therefore much will from that ‘point of view’ be left out, distorted on the circumference, or seem a discordant oddity.“
Melkor ist das genaue Gegenteil dessen, was hier umrissen wird. Nirgendwo sonst wird so deutlich, worin sein Fehler besteht, worin sein Verrat besteht. Er missbraucht seine Fähigkeiten, um zu herrschen und zu kontrollieren, er erhebt sein eigenes begrenztes Verständnis des Gesamtwerks zur Norm, schließlich zieht er andere Ainur in seine monotone Melodie hinein und erstickt die Vielfalt der Fantasie - dadurch beschädigt er das Schöpfungswerk schwer anstatt es zu bereichern, seinetwegen entsteht schließlich überhaupt erst das Leid in der Welt. Welche Möglichkeiten hätte er gehabt, hätte er seine Fähigkeiten in Harmonie mit seinen Geschwistern eingesetzt, hätte er seinem Schöpfer Eru vertraut und sich an die Gemeinschaft der Ainur rückgebunden! Es wären sicher schönere Dinge daraus entstanden als Schnee, Regen, Wolken und die anderen Phänomene, die selbst seiner Zerstörungswut noch etwas Gutes abgewinnen.