Allmählich begreife ich die Tragweite Deiner Interpretation des Profanisierungsfluchs. Die ganze Zeit über habe ich die Verheerung dieser bösen Verwünschung nur innerhalb des Buches betrachtet – aber nicht außerhalb. Der Gedanke ist genauso verrückt wie faszinierend: Möglicher Weise ist es Morgoth irgendwie gelungen, Tolkiens poëtische Sensibilität zu stören und dadurch Einfluß auf die Niederschrift zu nehmen.
Jostein Gaarder und Michael Ende haben uns gezeigt, daß literarische Figuren ein verblüffendes Eigenleben entwickeln können, wenn sie ihre eigene fiktive Existenz entdecken. Im Fall einer solchen Erkenntnis fühlt sich ein Protagonist verständlicher Weise nicht mehr an den für ihn vorgesehenen Plot gebunden und macht fortan nur noch, was er will.
Auch Tolkien hatte seine literarischen Figuren nie völlig unter Kontrolle. Sie waren autonom genug, um ihn immer wieder überraschen zu können. Aus einem werkgeschichtlichen Kommentar wissen wir, daß z.B. das Auftauchen Streichers in Bree ein regelrechter Schock für den Professor war.
Was ist, wenn Melkor bei weitem mächtiger geraten ist, als von seinem Erfinder beabsichtigt? Möglicher Weise ist der ultimative Querulant Morgoth nicht nur in der Lage gewesen, Ilúvatars Schöpfung zu ruïnieren, sondern auch das Werk Tolkiens.
Das hieße, daß die Verfluchung Húrins auf mehreren Ebenen gewirkt hätte: Im Buch bescherte sie Túrin und seinen Angehörigen unsägliches Leid. In unserer Welt aber verleitete sie Tolkien dazu, den stilistisch fragwürdigen Auftritt Saeros´ zu ersinnen.
Die psychologische Wechselbeziehung zwischen Autoren und ihren Protagonisten ist nach wie vor ein großes Mysterium. Kann eine Figur so boshaft sein, daß es ihr gelingt die Geschichte zu verderben, in die sie gehört?