Grundsätzlich hast du völlig recht, raukothaur. Lass mich trotzdem bitte deinen knappen Beitrag als Aufhänger nehmen, um das Ganze Thema etwas zu differenzieren.
Tolkien hat ein sehr interessantes Konstrukt geschaffen. In der guten Tradition von Märchen und Mythen hat er sich mit der menschlichen Sehnsucht nach Unsterblichkeit, die sich aus dem Ringen mit der eigenen Sterblichkeit ergibt, auseinandergesetzt, indem er eine unsterbliche Rasse geschaffen hat und die Problematik aus der Perspektive eben dieser unsterblichen Rasse betrachtet hat. Das könnte ich jetzt seitenweise näher darlegen, aber wichtig ist nur das "Ergebnis": So wie die Menschen mit dem Tode hadern und sich nach Unsterblichkeit sehnen, so hadern die Elben mit ihrer Unsterblichkeit, leiden geradezu daran, und sehnen sich nach der Befreiung von den Fesseln der Erdgebundenheit.
Die wichtigste Erkenntnis ist jedoch, dass auch die Unsterblichkeit der Elben im Grunde nur Schein ist. Da die Schöpfung vergänglich ist, sind auch die Elben am Ende vergänglich und werden genauso ausgelöscht wie die Menschen im Tod ausgelöscht werden. Im Grunde stehen beide, sterbliche Menschen wie unsterbliche Elben, am Ende vor dem Abgrund des Todes.
Nun ist es recht leicht, zu sagen: Die Menschen sind nicht an die Welt gebunden und Eru hat nach deren Tod einen Plan mit ihnen, während die Elben vollständig vernichtet werden. Das wird aber so nie explizit gesagt, denn das würde Tolkiens Konstrukt völlig auseinandersprengen und seine Mühen zunichte machen, die er sich bis dahin gegeben hat. Und dessen war er sich offensichtlich auch bewusst. Denn Tatsache ist: Weder Elben noch Menschen haben auch nur einen blassen Schimmer, was nach ihrem endgültigen Tod mit ihnen geschieht. Der elbische Mythos gibt einige sehr vorsichtige Hinweise, aber die müssen sehr differenziert betrachtet werden.
Wichtig ist, dass wir hier ausdrücklich eine elbische Perspektive vor uns haben. Wenn im Mythos davon die Rede ist, was mit den Menschen nach ihrem Tod geschieht, wird immer wieder ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Elben dies nicht wissen. Dennoch stellen sie Vermutungen an, indem sie die Natur der Menschen betrachten und daraus Schlüsse auf ihre Bestimmung ziehen, zum Beispiel: Menschen sind bei weitem nicht so stark an die Welt gebunden wie Elben, zudem sterben sie früh, also besitzen sie eine Art Freiheit gegenüber der Schöpfung und ihrem Schicksal, also liegt ihre Bestimmung außerhalb der Welt. Damit wecken sie Hoffnungen, mehr aber auch nicht.
Wenn über das Schicksal der Elben nach der Zerstörung Ardas die Rede ist - wieder aus elbischer Perspektive - haben wir es ganz deutlich mit einer Verdichtung elbischer Erlösungshoffnungen zu tun: Die Welt, an die sie gebunden sind, wird neu und diesmal fehlerfrei entstehen, ohne den Veränderungsprozess, an dem sie so leiden. Darüber hinaus wird DER elbische Sündenfall schlechthin "erlöst", denn Feanor wird seine Silmarilsteine freiwillig aufgeben, sie werden zerbrochen, die Zwei Bäume werden wiederbelebt und ihr Licht wird über die ganze Erde strahlen und die Götter wieder jung machen und die verstorbenen Elben wiederauferstehen lassen. Auch hier: Nichts weiter als elbenspezifische Hoffnungen.
Dies scheint Tolkien überaus wichtig gewesen zu sein: Er achtet höllisch darauf, nirgendwo eine eindeutige Aussage darüber zu machen, was Elben oder Menschen nach ihren endgültigen Tod erwartet. Es gibt kein Himmel-Hölle-Fegefeuer-Konzept oder ähnliche Dinge, Tolkien verzichtet komplett darauf. Er deutet immer nur Hoffnungen an. Diese ist ihm dafür umso wichtiger, diese Hoffnung die nicht weiß, was geschehen wird, die sich nicht auf Erfahrung stützen kann, die immer eine "hope without guarantees / Hoffnung ohne Garantien" bleibt. In der "Athrabeth Finrod ah Andreth" wird sie mit dem Begriff Estel bezeichnet. Aragorn, der Archetyp eines idealen Umgangs mit dem Tod, der nicht zufällig den Ziehnamen Estel trägt, lässt sich von dieser Hoffnung im Sterben leiten, als er sich dem Tod freiwillig stellt, ihn als Teil seiner menschlichen Natur akzeptiert und alles loslässt was er hat, seine Macht, seine Ämter, seinen Besitz, die Welt, sich selbst. Seine Hoffnung ist alles, was er hat, und sie kann hier und da in Tolkiens Werk erahnt werden - aber sie wird nie explizit, weder für Elben, noch für Menschen.
Hoffnung zu wecken und Trost zu spenden gehört zu den Funktionen, die Tolkien der fantastischen Literatur zugeschrieben hat. Er selbst hat sein Leben lang mit dem Tod gerungen, seinen Vater hat er kaum gekannt, als dieser starb, seine Mutter starb als er zwölf war, im Ersten Weltkrieg hat er den Tod in seiner schrecklichsten Form kennengelernt, und anschließend waren alle seine Freunde bis auf einen tot. Es wundert nicht, dass Tolkien sich so intensiv literarisch mit diesem Thema auseinandergesetzt und so versucht hat, einen Weg zu finden, um mit dem Tod umzugehen - den er wenige Jahre vor seinem Tod radikal und deutlich als "unjustifiable violation / durch nichts zu rechtfertigende Vergewaltigung" der menschlichen Natur bezeichnet hat.