Aztlan, das ist wirklich vorbildlich von Dir, daß Du Dir die Mühe machst und hinsichtlich der Fragestellung dieses Threads extra noch mal das ganze Silmarillion durchackerst. Dann wird man Dir gewiß auch zumuten dürfen, die bisherige Diskussion noch einmal zu rekapitulieren.
Bis auf das Beispiel der Rettung vor den Räubern haben wir die angeführten Beispiele hier bereits erörtert. Die Situationen wurden überwiegend mit der Feststellung relativiert, daß die entsprechenden Szenen so angelegt sind, daß eine libidonöse Motivation dramaturgisch nicht zwingend notwendig ist. Das Begehren der Akteure läßt sich auch durch andere andropomorphe Laster und Leidenschaften wie etwa Macht- oder Besitzgier erklären. So weisen zum Beispiel die spontanen Heiratsspläne der Brüder Curufin und Celegorm bei der unverhofften Begegnung mit Lúthien und Beren ganz eindeutig Thron-strategische Züge auf.
Das heißt: Wer eine entsprechende Phantasie hat, kann in Mittelerde hinter jedem Mallornbaum Sodom und Gomorrha vermuten, sofern er mit den spärlichen Anhaltspunkten des Werkes auskommt.
So auch in Deinem Beispiel: Sich auf der Flucht vor Räubern die Kleider zu ruïnieren, wäre auch ohne die von Dir interpretierte Schändungsabsicht denkbar. Vielleicht ging es den Schurken ja um Lösegeld.
Das völlige Fehlen von expliziten Darstellungen sexuëller Handlungen leistet sogar der einigermaßen gewagten These Vorschub, daß es in Tolkiens Welt nicht nur keine Libido, sondern auch keine biologische Zeugung gibt. Zahlreiche Elemente der Mythologie torpedieren die uns vertrauten physischen Gesetzmäßigkeiten.
Wenn wir ehrlich sind, können wir nicht einmal ausschließen, daß Arwen und Aragorn untenherum aussehen wie Barbie und Ken.
Meine eigene Auffassung, nämlich die, daß die Libido in Mittelerde eine verschwindend geringe Rolle spielt, wird vor allem dadurch gestützt, daß das klassische sexuëlle Motiv der Epik schlechthin bei Tolkien fehlt: Der Ehebruch.
Die gesuchte, außereheliche Triebbefriedigung (Idril ist im Bezug auf Maeglin meines Erachtens über jeden Zweifel erhaben; Tuor erst recht).
Aber Deine lobenswerte Fleißarbeit bringt mich auf eine weitere aussagekräftige Lücke im Legendarium. Auch das Gegenteil von wollüstigen Ausschweifungen fehlt: Der Kult um die Jungfräulichkeit.
Diesen Aspekt habe ich oben bisher nur gestreift: Da die ganze Dimension der sexuëllen Lust nicht zu existieren scheint, ist es nur plausibel, daß sich die Bewohner Mittelerdes auch nicht sonderlich durch Keuschheit auszeichnen können.
Ich muß aber einräumen, daß ich mich hier möglicher Weise in eine unglückliche Analogie zum christlich geprägten Mittelalter versteige.
Insgesamt möchte ich an meinem bisherigen Eindruck festhalten, daß die Marginalisierung von Sexualität und Libido in Tolkiens Werken mindestens auffällig, wenn nicht sogar evident ist.
Interessant finde ich, daß Du einem Bauern sehr wohl frivole, autobiographische Ausführungen zutrauen würdest, nicht aber einem Gärtner.