Es gehört zu den großen Mysteriën der Rezeption lebendiger Phantasiegeschichten, daß sich ihr Verständnis der modernen Psychologie umso gründlicher entzieht, je tiefer diese dort gräbt.
Ohne die nötige Verve taugen geisteswissenschaftliche Ansätze nicht dazu, die Werke Tolkiens zu erhellen. Ihr grundsätzliches Scheitern hat Tolkien selbst mit seiner höchst allegorischen Turm-Parabel für alle Zeiten entlarvt.
Aber wer hier wollte dem anachronisten ernsthaft die erfrischende Glasperlenspielerei verübeln? Wir alle lechzen ja nur nach einer neuen Hypothese oder ungewöhnlichen Blickwinkeln, anhand derer wir den Lieblingsstoff abklopfen oder sogar wieder ganz von vorn aufrollen können.
Sinnlos, die Gefühlswelt der Auënländer nach modernen Begriffen zu pathologisieren. Im Gegensatz zum Silmarillion handelt es sich bei der Text-Situation des Herrn der Ringe tatsächlich im Kern um eine soziale Semantik. Die Hobbits sind der Maßstab aller Dinge. Ihr Blick in die Welt konstruïert die Wunder Mittelerdes.
Daher trägt eine Untersuchung der Kollektiv-Beziehungen der Völker Ardas weit mehr zum Verständnis der charakterlichen Komposition der beiden Beutlin-Protagonisten bei, als die psychologische Einzelbetrachtung der Figuren. Ariën hat mit der gesellschaftlich erwünschten Neophobie der Auënländer, zu der unsere Fallohide-Helden kontrastieren, bereits den richtigen Anstoß gegeben.
Wer dem Leser die vornehme Herrlichkeit sanftmütiger Elben oder die Widerwärtigkeit häßlicher Yrch veranschaulichen möchte, braucht eben engstirnige, kleinbürgerliche Hobbits als Basispunkt seiner Beschreibungen. Ohne die Vermittlung durch die auënländische Normalität hätte der Autor die superlativen Attribute seiner Fabelwesen nur stumpf behaupten können, ohne unsere Vorstellungskraft anzuregen. Der Zauber entsteht erst im kulturellen Verhältnis der Völker untereinander.
Der Hang zur Absonderung, den wir zweifellos bei beiden Beutlins beobachten, erklärt sich demnach aus ihrer medialen Funktion. Da sie Grenzgänger zwischen friedlicher Provinztristesse und der Welt der großen Abenteuer sind, passen sie nicht recht in den profanen Alltag ihrer Mitmenschen. Sie wohnen unter den Auënländern, sind aber gleichzeitig schon halb in Richtung ihrer Geistesverwandtschaft zu den Elben entrückt. Letztendlich warten sie in Beutelsend nur auf die Eressea-Passage in ihre wirkliche Heimat.
Wie Berenfox bereits richtig angemerkt hat, liefert Tolkiens Biographie kaum Inspiration für einen anständigen Einzelgänger. Stattdessen lesen wir, wie er in nahezu jedem Lebensabschnitt literarische Klubs gründet oder sich bestehenden Debattierzirkeln anschließt, wo nicht selten bis spät in die Nacht gezecht wird. Hinzu kommt das intensive katholische Gemeindeleben, in das Tolkiens Glauben eingebettet ist.
Sehr dürftig müßte der Steppenwolf ausfallen, der nach diesem Vorbild entstünde.
Mit einer winzigen Korrektur könnte der Ansatz des anachronisten allerdings eine gewisse biographische Fundierung finden. Meiner Meinung nach bedarf der Charakter des Ringträgers vor dem Hintergrund des narrativen Gesamtgefüges keinerlei werkexterne Erklärung. Dennoch ist es nicht auszuschließen, daß die Isolation Frodos die Einsamkeit Edith Tolkiens widerspiegelt, die sich durch ihre Rolle im Haushalt und vor allem durch ihre Konversion zum Katholizismus nachweislich von vielen Bereichen des britischen Gesellschaftslebens ausgeschlossen fühlte. Edith litt besonders unter der kühlen Reaktion ihrer protestantischen Angehörigen, die den Kontakt quasi abbrachen. Wir wissen, daß dieser Konflikt unter den Eheleuten thematisiert wurde. Wenn Tolkien wirklich ein reales Vorbild für einen Außenseiter benötigte, mußte er nicht erst seit seiner hervorragenden akademischen Vernetzung außerhalb der eigenen Erfahrungen suchen. Schicksalsschläge hin oder her. Dem hier versuchten Bild des menschenscheuen Einzelgängers wird Tolkien einfach nicht gerecht.
Wenn überhaupt wäre Frodos Isolation also nicht Johns, sondern Ediths Trauma.