Wenn etwas nicht anmaßend ist, dann ist es nicht Nelkhart.
Aber in diesem Fall wäre es mehr als unredlich, die Unverfrorenheit, die Du zu erkennen glaubst, mir selber anzurechnen. Denn der Professor hat uns recht deutliche Hinweise hinterlassen, in welchem Verhältnis Mittelerde und unsere Welt stehen: Sie sind identisch.
Berühmt geworden ist Tolkiens Satz: Die Frage ist nicht, wo Mittelerde ist, sondern wann.
In Brief 211 wird er ziemlich konkret:
„[Ich]…hoffe, daß die augenscheinlich lange, aber unbestimmte zeitliche Lücke* zwischen dem Fall von Barad-dúr und unseren Tagen ausreicht, eine »literarische Glaubwürdigkeit« zu erwirken…
* Ich stelle mir eine Lücke von ca. 6000 Jahren vor: das heißt, wir sind jetzt am Ende des Fünften Zeitalters, wenn die Zeitalter ungefähr von gleicher Länge wären wie das Erste und Zweite. Ich denke aber, sie haben sich beschleunigt, und stelle mir vor, wir sind gegenwärtig am Ende des Sechsten Zeitalters oder im Siebten.“
(Sic!)
Hinzu kommt Tolkiens Ambition, seinem mythologisch verarmten England eine eigene Nationalsaga zu schenken, die mit dem hier bereits besprochenen Konzept in Zusammenhang steht, Tol Eressëa habe sich später von Aman gelöst und sei in Richtung Europa gedriftet, um irgendwann das Archipel zu werden, das wir heute als die britische Inselgruppe bezeichnen. Das heißt, viele Engländer wissen gar nicht, daß sie auf elbischem Boden stehen.
Wer Tolkien die Deutungshoheit über sein Werk zugesteht, dem bleibt hier relativ wenig Spielraum, die These von der „isolierten Arda“ aufrecht zu erhalten. Andererseits werde ich nicht müde, grundsätzlich jeden zu ermutigen, der bestrebt ist, sich von Tolkiens Unfehlbarkeit zu emanzipieren. Denn natürlich machte Tolkien Fehler. Saeros zum Beispiel – quasi der Nelkhart von Doriath – den hat es nie gegeben.
In diesem Fall bin ich allerdings ganz beim Professor: Mittelerde ist keine Welt „hinter“ unserer Welt, in die man durch irgendwelche Schränke oder magische Portale gelangt. Das wäre der Ansatz E.T.A. Hoffmanns und seiner zahlreichen Epigonen. Laß die obskuren Tränke stehen. Wisch die Runen wieder auf. Du brauchst Dich nicht zu „verzaubern“. Tolkien hat seine Welt so angelegt, daß das Märchenhafte nahtlos in unseren Alltag übergeht. Mittelerde ist da. Immer.
Alsa und ich sind uns – wenn ich mich richtig erinnere – ziemlich einig darüber, daß der Herr der Ringe keine mythologisch verschnörkelte Paraphrasierung des zweiten Weltkriegs ist. Uns entzweit jedoch die Frage, ob die Geschichten aus Mittelerde als ethische Mahnung für unsere Zeit oder zumindest für die Konflikte des 20. Jahrhunderts gemeint sind. Ich habe dem klar widersprochen. Gandalf hat keine Lösungen für unsere Probleme. Alsa ist nun in die Meta-Literatur abgetaucht, um Tolkiens Gedanken zu erforschen. Ich bin sehr gespannt, was sie mitbringt, wenn sie wieder erwacht.
Das Spice muß fließen.