Mir geht es im Grunde genau wie Melkor. Ich wurde gezwungen, auf die Welt zu kommen. Niemand hat mich vorher um meine Erlaubnis gebeten. Ein ziemlich übergriffiger Akt meiner Eltern, wie ich jetzt erkenne. Beziehungsweise meines Schöpfers.
Dasselbe gilt für Autoren und Künstler. Wieso der alte Mann und das Meer? Warum nicht die junge Frau und die Wiese? Der Name der Nelke? Homo Saber?
Schöpfertum ist Gewalt und Diktatur. Gnadenlose Festschreibung. Totale Herrschaft. Die ultimative Repression.
Das kann man so sehen, wenn man möchte, stellt uns aber vor die umgekehrte Theodizee-Frage: Woher kommt dann das Gute in der Welt?
Freundschaft, Ehrlichkeit, Aufopferung und Mitleid sind ja eigentlich ganz gute Erfindungen. Aber was ist daran eigentlich gut? Was kann gut im Werk eines omnipotenten Schurken sein?
Beim Versuch zu absoluten Kategoriën zu gelangen, wird man hier und in Eä gleichermaßen feststellen, daß man auf philosophisch wackeligem Boden steht, denn es gibt für Menschen keinen neutralen Punkt, um Kritik am Sein selbst auszuüben. Uns fehlt der Vergleich zu alternativem Sein.
Erst das Unglück macht den Retter zum Helden. Wahrscheinlich braucht Ilúvatars Eä deshalb so viel Unglück.
Allmacht ist der Fluch jeden Künstlers. Bei Eru haben wir es mit einem Künstler zu tun, der von einem Künstler erschaffen wurde, der diese Figur nach Vorbild dessen schuf, nach dessen Ebenbild er sich selbst geschaffen glaubte. Und ich ahne, daß hier dem mittleren Künstler, Tolkien, die beiden anderen zum Vorwurf gemacht werden.
Aber mächtig zu sein, ist noch kein Verbrechen. Man muß die Macht schon mindestens mißbrauchen. Und hier wird es bereits ziemlich eng: Ilúvatar handelt im Legendarium im Wesentlichen nur dreimal. Er stellt den Chor der Ainur zusammen, setzt deren Weltdesign in materiëlles Sein um (mittels des geheimen Feuërs) und entrückt am Ende des zweiten Zeitalters Aman. Und das auch nur, weil sein zartbesaiteter Hauptstatthalter jammert. Für ein Absolutum ist das im Grunde bemerkenswert zurückhaltend. Tyrannei geht anders.
Ich muß sagen, nach Nietzsche, Foucault und Marilyn Manson wirkt diese Eru-Dekonstruktion doch einigermaßen ermüdend. Spätestens seit Akte X, der Mutter aller Verschwörungstheoriën, hat es an Reiz verloren, gut und böse auf den Kopf zu stellen.
Man tut sich wirklich keinen Gefallen damit, Tolkiens Geschichten als gescheiterten Versuch Melkors zu lesen, die Sklaven Ilúvatars von der Tyrannei ihres Schöpfers zu befreiën. Der Perspektivwechsel nötigt einen dazu, sich viele Seiten lang mit gehirngewaschenen Kleinbürger-Helden zu beschäftigen, die in ihrer armseligen Fröhlichkeit übersehen, daß sie Gefangene ihrer gottgegebenen Rechtschaffenheit sind. Dadurch verliert die liebevolle Beschreibung der Wunder Mittelerdes – ein Großteil des Werkes also - ihren ganzen Sinn.
Die Einsicht, „unfgefragt“ auf die Welt gekommen zu sein, bringt die Menschheit seit Jahrtausenden in Erklärungsnöte. Die einen unterwerfen sich Gott, die anderen quälen sich mit ihrem Narzißmus ab.
Immerhin hat die Vorstellung, erschaffen worden zu sein, beide ziemlich weit gebracht: Erde und Mittelerde.