Demian ist korrekt! Damit geht der Ball an dich zurück.
Die Emilia, die du und dein Nachhilfeschüler da beschreiben, kommt mir mit ihren inneren Konflikten und unkontrollierten Leidenschaften, die sie aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen nicht ausleben kann, sehr menschlich und damit wirklich bemitleidenswert vor.
Ich muss zugeben, dass es schon eine Weile her ist, dass ich Emilia Galotti zum letzten Mal gelesen habe, aber ich kann mich noch erinnern, dass ich sie damals ganz anders wahrgenommen habe. Ist sie nicht das fromme, sittliche Mädchen, das selbst an ihrem Hochzeitstag die Messe nicht versäumen möchte (und zwar nicht, weil irgendjemand sie zwingt, sondern aus eigenem Antrieb und Pflichtgefühl)? Und ist sie nicht eindeutig ablehnend gegenüber den Versuchungen des höfischen Lebens und den Verführungsversuchen des Prinzen eingestellt? Neben dem blanken Entsetzen über die Annäherungsversuche des Prinzen war da doch nur noch die Scham gegenüber ihrem Verlobten und das starke Verlangen, ihm von der Begenung in der Kirche zu berichten - keine Spur vom Verlangen nach einem anderen Liebhaber. Ich kann mich an keine Stelle erinner, an der Lessing irgendeinen Zweifel daran gelassen hätte, das Emilia der Inbegriff der bürgerlichen Tugend und Sittlichkeit darstellt. Und die Krönung des Ganzen ist dann ihr Wunsch, lieber zu sterben als vom Prinzen entehrt zu werden - was wahrscheinlich unabhängig von ihrer eigenen Haltung passiert wäre, da sie sich am Ende des Dramas ja in seiner Gewalt befindet. Somit ist der Tod der letzte Ausweg, sich dem übergriffigen Prinzen zu entziehen.
Ja, Emilias Furcht, vielleicht dem Prinzen doch noch zu verfallen, passt da leider nicht so richtig ins Bild. Trotzdem wäre ich erstmal nicht auf die Idee gekommen, den Widerspruch zwischen Emilias unterdrückten Begierden und der gesellschaftlichen Norm als zentralen Konflikt zu sehen - wenn ich dich in der Beziehung richtig verstanden habe. Bis der lüsterne Prinz auftaucht und Appiani tötet scheinen doch alle Beteiligten - einschließlich Emilia - glücklich und zufrieden.
Trotzdem - spannender Ansatz. Ich glaube, ich muss das Stück noch mal lesen. Vielleicht finden sich ja noch weitere Hinweise, dass Emilia nicht so rein und unschuldig ist wie in meiner Erinnerung.