Das mit der moralisierenden Schullektüre stimmt leider oder hat zumindest sehr lange gestimmt; soweit ich das mitbekommen habe scheint sich da in den letzten Jahres wirklich einiges verbessert zu haben.
Der Widerwille gegen die Schullektüre kommt wohl tatsächlich vielfach von diesem leider hierzulande schultypischen Moralisieren. Aber eine ganz wichtige Rolle spielt da etwas anderes, glaube ich. Und das hat eher mit diesem unsäglichen "was will der Dichter uns damit sagen?" zu tun. Es wird interpretiert, und zwar sehr ausführlich. Zu ausführlich oft, denn durch zu viel Interpretieren geht oft die Freude an einem Text total verloren. Außerdem wird so interpretiert wie der Lehrer/die Lehrerin es für richtig hält, weil es so in dem Kommentar oder Lehrerhandbuch steht mit dem diese Lehrerinnen/Lehrer sich auf ihren Unterricht vorbereitet haben. So flexibel eine völlig andere Interpretation durch die Schüler und Schülerinnen zuzulassen sind nicht alle. Mein Deutschlehrer auf dem Gymnasium war es. Der hat mal unter eine Goethe-Interpretation von mir geschrieben: "Ich persönlich halte diese Interpretation für falsch. Aber die Argumentation ist ausgezeichnet, und es ist glänzend geschrieben. Sehr gut."
Ich habe den Eindruck dass eine ganz grundlegende Sache im Literaturunterricht oft zu kurz kommt: einen Text ganz toll finden, einfach Spaß an dem Text haben. Und nach fast vierzig Jahren Erfahrung als Deutschlehrerin finde ich es ziemlich schade das sehr viele Kolleginnen und Kollegen genau das nicht vermitteln können, weil ihnen dieser Spaß offenkundig selbst fehlt, vor allem wenn es um alte Texte geht. Und dadurch entsteht dann oft eine Herangehensweise im Unterricht die jeden Spaß an der Sache schon im Vorfeld abblockt. Stoßseufzer einer Kollegin:"Wie soll ich die Schüler bloß für Schiller interessieren? Na gut, ich versteh's ja irgendwie, mir ist der auch zu sehr Vergangenheit. Ich habe also Informationsblätter gemacht, über die Literaturepoche und über Schillers Leben. Und dann haben wir versucht, Die Räuber zu lesen, aber die kriegen es nicht hin, es hört sich schrecklich an wenn sie das vorlesen." So kann das ja nichts werden.
Also habe ich versucht es besser zu machen, und das hat mich im Endeffekt etliche Stunden Mehrarbeit gekostet. Aber unendlich viel Spaß gemacht hat es auch. Ich habe den Schülern einfach den Text der Schulordnung jener extrem autoritären Internatsschule zu lesen gegeben die Schiller als Jugendlicher besucht hat. Ihre Reaktion war absehbar:"Das geht doch nicht, da können die Schüler ja nur durchdrehen, die laufen doch Amok irgendwann." Und damit hatte ich dann den Übergang zu dem Text den ich brauchte: einer dieser Schüler läuft zwar nicht gerade Amok, aber er schreibt einfach seine Wut aus sich heraus.Ich habe die Klasse gewarnt: der Text ist alt, und der ist schwer zu lesen für euch. Sie haben gemeint, das kriegen sie schon hin, das wird interessant. Und sie haben's hingekriegt. Irgendwann sollten sie als Hausaufgabe den ersten Akt zu Ende lesen. Schülerfrage:"Darf ich auch weiter lesen?" Natürlich durfte er. Und dann kam irgendwann die Idee auf, ob sie das nachspielen können. Dafür blieb im Unterricht natürlich keine Zeit. Nächste Frage:"Können wir das nicht nachmittags machen?" Wir konnten, auch wenn das für mich unter "unbezahlte Überstunden" fiel. Wir haben etliche Szenen einstudiert, mit Schülerinnen und Schülern die überwiegend aus "bildungsfernen Familien" stammten und vielfach von ihrer Herkunft her nicht mal deutschsprachig waren. Und die konnten durchaus mit diesen alten Texten umgehen, sie fanden das sogar super. Und ein paar von ihnen haben sich im Anschluss an die ganze Sache sogar im Internet informiert, über Schiller und über de entsprechende Literaturepoche.