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Tolkiens unbekannte Gedichte


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Geschrieben

Im "Book of Lost Tales" wird erzählt, wie die Menschen im Ersten Zeitalter Beleriand durchwanderten und schließlich Hísilómë oder Hithlum erreichten, das Land des Nebels. Sie selbst nannten es Aryador ("Land of Shadow"), und zu jener Zeit lebten noch einige der Elben dort, die auf dem Weg gen Westen verloren gegangen waren. Die Menschen nannten sie "Shadow Folk" und fürchteten sie.

Darauf spielt ein Gedicht an, das Tolkien vor über hundert Jahren im September 1915 schrieb. Es beginnt mit einer Beschreibung der Täler von Aryador und wird in wörtlicher Rede fortgesetzt, als das Raunen des Schilfs in der Abenddämmerung, das die Gegenwart der Menschen rekapituliert und sich an frühere Zeiten erinnert, in denen nur das "shadow folk" zugegen war. Ein typisches Frühgedicht Tolkiens, voll von romantischem Naturerleben und der Erinnerung an mythische Zeiten.

 

A SONG OF ARYADOR

In the vales of Aryador
    By the wooded inland shore
    Green the lakeward bents and meads
    Sloping down the murmurous reeds
    That whisper in the dusk o'er Aryador:

    'Do you hear the many bells
    Of the goats upon the fells
Where the valley tumples downward from the pines?
    Do you hear the blue woods moan
    When the Sun has gone alone
To hunt the mountain-shadows in the pines?

    She* is lost among the hills
    And the upland slowly fills
With the shadow-folk that murmur in the fern;
    And still here are the bells
    And the voices on the fells
While Eastward a few stars begin to burn.

    Men are kindling tiny gleams
    Far below by mountain-streams
Where they dwell among the beechwoods near the shore,
    But the great woods on the height
    Watch the waning western light
And whisper to the wind of things of yore,

    When the valley was unknown,
    And the waters roared alone,
And the shadow-folk danced downward all the night,
    When the Sun had fared abroad
    Through great forests unexplored
And the woods were full of wandering beams of light.

    Then were voices on the fells
    And a sound of ghostly bells
And a march of shadow-people o'er the height.
    In the mountains by the shore
    In forgotten Aryador
    There was dancing and was ringing;
    There were shadow-people singing
    Ancient songs of olden gods in Aryador.'

 

*In früheren Versionen stand interessanterweise "he", das hat Tolkien schließlich geändert.

Geschrieben

Immer wieder gern! Momentan ist eh so eine Art "Jubiläums-Flow", weil Tolkien in den Jahren 1915-6 wirklich extrem viele Gedichte geschrieben hat, mehr als zu irgendeiner anderen Zeit. Der Erste Weltkrieg und seine Verpflichtung dem TCBS gegenüber (ein kleiner Club von Poeten, dem er damals angehörte) haben ihn kreativ offenbar stark angeregt.

  • 2 Wochen später...
Geschrieben

Apropos Jubiläum: das hat zwar wenig mit seinen Gedichten zu tun, aber heute vor genau 100 Jahren - am 22. März 1916 - hat JRR Tolkien in Warwick seine Edith geheiratet. Oder poetisch ausgedrückt: "Beren took the hand of Lúthien".

Geschrieben

Dann alles Gute zum 100. Hochzeitstag an den Professor und seine Liebste :dance:

  • 2 Monate später...
Geschrieben (bearbeitet)

Heute vor genau 100 Jahren, am 6. Juni 1916, überquerte Tolkien den Ärmelkanal, um als Soldat in Frankreich im Ersten Weltkrieg zu kämpfen. Auf dieser Überfahrt schrieb er ein Gedicht mit dem Titel "Tol Eressea", später geändert in "The Lonely Isle". Es ist ein sehr persönlicher Abschiedsgruß an England, an jene "glimmering island set sea-girdled and alone" mit dem bekannten "gleam of white rock over sundering seas", die er gerade am Horizont entschwinden sah. Die "fair citadel" mit ihren "lighted elms at eve" ist eine Anspielung auf Warwick und den Turm von Warwick Castle, ein Ort, der eine wichtige Rolle in Tolkiens früher Mythologie spielt. Im "Book of Lost Tales, das damals gerade im Entstehen begriffen war, ist Warwick identisch mit der Elbenstadt Kortirion im Land Alalminóre, dem Land der Ulmen, und die Einsame Insel Tol Eressea sollte am Ende des Buches zum England unserer Welt werden. Wendungen wie "thy forbidden marge [...] over sundering seas" geben noch einen Hinweis darauf, wie stark Tolkien selbst England noch als das 'verbotene' Reich der Faerie empfunden hat, während "my lonely outward way" Tolkiens Stimmung beim Abschied von seiner Heimat sehr eindrücklich umschreibt. Insofern ist dieses Gedicht ein sehr schönes Beispiel dafür, wie stark sich bei Tolkien seine Fantasie und sein literarisches Werk mit seiner persönlichen Erfahrung und der realen Welt vermischt.

 

THE LONELY ISLE        
 
For England

O glimmering island set sea-girdled and alone –
A gleam of white rock through a sunny haze:
O all ye hoary caverns ringing with the moan
Of long green waters in the southern bays;
Ye murmurous never-ceasing voices of the tide;
Ye plumed foams wherein the shoreland spirits ride;
Ye white birds flying from the whispering coast
And wailing conclaves of the silver shore,
Sea-voiced, sea-winged, lamentable host
Who cry about unharboured beaches evermore,
Who sadly whistling skim these waters grey
And wheel about my lonely outward way –

For me for ever thy forbidden marge appears
A gleam of white rock over sundering seas,
And thou art crowned in glory through a mist of tears,
Thy shores all full of music, and thy lands of ease –
Old haunts of many children robed in flowers,
Until the sun pace down his arch of hours,
When in the silence fairies with a wistful heart
Dance to soft airs their harps and viols weave.
Down the great wastes and in a gloom apart
I long for thee and thy fair citadel,
Where echoing through the lighted elms at eve
In a high inland tower there peals a bell:
O lonely, sparkling isle. Farewell!
Bearbeitet von Berenfox
Geschrieben

Vielen Dank für das schöne Gedicht, Berenfox. Und die Erinnerung an Tolkiens Zeit im 1.Weltkrieg.

Ich bewundere den Lyriker Tolkien immer mehr. Die neue Abhandlung von Julian Eilmann 'Tolkien und die Romantik' fasst wohl auch den Lyriker mehr ins Auge. Hast du das Buch schon gelesen?

Die DTG erinnert zur Zeit auch täglich mit einem Bild und einem kurzen Text an Tolkiens Zeit im Krieg.

Hat er eigentlich auch Gedichte in dieser Zeit geschrieben?

Geschrieben (bearbeitet)

Nein, Julian Eilmanns neues Buch hab ich leider noch nicht gelesen, steht aber ganz oben auf meiner Liste. Habe aber vor kurzem erst das von ihm mitherausgegebene Buch "Tolkien's Poetry" gelesen.

Ja, das verfolge ich auf Facebook. Von John Garth und anderen kommen da auch immer wieder Erinnerungen an bestimmte Daten und Ereignisse.

Natürlich hat er das. Leider sind diese Gedichte fast alle bisher nicht veröffentlicht worden. "The Forest-Walker" zum Beispiel setzt sich mit den Gefühlen Tolkiens auseinander, mit denen er in einem Wald in Frankreich zu kämpfen hatte; dorthin ging er, um über den Tod seines Freundes Rob Gilson nachzudenken (einen jener Freunde, von denen er später im Vorwort zum LotR schrieb "By 1918 all but one of my close friends were dead"). Andere Gedichte aus dieser Zeit tragen die vielsagenden Titel "A Dream of Coming Home" oder "A Memory of July in England", bei denen man schon auf den ersten Blick erahnen kann, aus welchen Gefühlen heraus sie entstanden sind.

Bearbeitet von Berenfox
Geschrieben

Meint Ihr vielleicht "Tolkien – Romantiker und Lyriker"? Von diesem Jahr? Würde ich unbedingt mit Safranski querlesen. Eilmann füllt genau die Lücke in seinem großen Werk "Romantik: Eine deutsche Affäre".

Laßt uns – wenn wir endlich alt und asexuëll sind – unser Wissen zusammenwerfen und DAS Jahrhundertwerk über die autopoiëtische Weltpoësie schreiben.

Geschrieben
vor einer Stunde schrieb Nelkhart:

Meint Ihr vielleicht "Tolkien – Romantiker und Lyriker"? Von diesem Jahr?

Genau das meinte ich.

 

vor einer Stunde schrieb Nelkhart:

Eilmann füllt genau die Lücke in seinem großen Werk "Romantik: Eine deutsche Affäre".

Mit Lücke meinst du, was?

Geschrieben

Was für eine Frage: Die Lücke heißt Tolkien. Safranski schreibt über Tieck, Schelling und Eichendorff. Sogar Shakespeare. Aber kein Wort über Tolkien.

Geschrieben

Nunja, das ist ja nichts Neues. Tolkiens Werk wird ja in der Regel komplett ignoriert, nicht nur in Bezug auf seine eskapistischen und realitätsfernen Beiträge zur Popkultur, sondern inklusive seiner theoretischen Schriften. Ein Loch, das man an allen Ecksn und Enden bemerkt.

Geschrieben

Wie wahr... Unter dem ignoranten Abwink-Reflex der ofiziëllen Intelligentsia leiden wohl alle Hoch-Nerds.
Gut, es läßt sich ja kaum verheimlichen, daß ich selbst aus der Pop-Theorie komme. Daher kann ich sagen, daß sich Tolkiens Thesen trotz allen Belächelns wunderbar eignen, um diesen kulturmarxistisch dominierten Betrieb hin und wieder gehörig aufzumischen.

Eine Frage noch an die Pengelydh: Ich habe vor Jahren mal von einem Buch gehört, daß die Tolkien-Rezeption der Hippies mit all ihren esoterischen Vereinnahmungen und Mißverständnissen abhandelt. Aber mein Freund Google hat es nicht finden können. Habt Ihr einen Hinweis für mich?

Geschrieben
Am 9.6.2016 um 11:49 schrieb Nelkhart:

Safranski schreibt über Tieck, Schelling und Eichendorff.

Was auch nicht verwundert, da es seiner Geisteswelt als deutscher Philosoph und Autor wohl näher liegt. Und Shakespeare ist für viele Autoren dieser Zeit wichtig. Um ihn kommt er wohl deshalb nicht herum.

 

vor 5 Stunden schrieb Nelkhart:

Ich habe vor Jahren mal von einem Buch gehört, daß die Tolkien-Rezeption der Hippies mit all ihren esoterischen Vereinnahmungen und Mißverständnissen abhandelt.

Ich glaube, ich weiß welches Buch gemeint sein könnte, komme aber im Augenblick nicht auf Autorin und Titel. Vielleicht steht's noch in meinem heimischen Bücherregal.

Geschrieben
vor 53 Minuten schrieb Nelkhart:

Jetzt kreisen alle meine Gedanken um dieses vergessene Bücherregal.

Mir ist wieder eingefallen, welches Buch ich meinte. 2001 wurde es sogar noch mal aufgelegt, der Titel selbst ist deutlich älter:

Die Entdeckung von Mittelerde

 

Geschrieben (bearbeitet)

Bis Du jetzt extra in die Heimat gefahren, um das Buch in dem geheimnisvollen Regal zu finden?
Vielen Dank für den Tipp. Ich fürchte, das Buch, das ich suche, setzt sich deutlich kritischer mit der esoterischen Rezeption Tolkiens auseinander. Dennoch haben mich die genüßlichen Amazon-Verrisse neugierig gemacht. Nach der Lektüre weiß ich mehr.

Also Danke noch mal für Deine Hilfe.

Bearbeitet von Nelkhart
  • 1 Jahr später...
Geschrieben

Hallo Interessierte,

hier wurden die "Songs for the Philologists" schon mal erwähnt. Ich bin kürzlich darauf hingewiesen worden:

Zitat

Songs for the Philologists („Lieder für die Philologen“) mit dem Untertitel Mál-rúnar skaltu kunna ist eine Sammlung von Liedern, die von J. R. R. Tolkien, Eric Valentine Gorden und anderen, in den Jahren 1920 bis 1924 in Leeds verfasst und niedergeschrieben, und 1936 am University College in London gedruckt wurde. Es handelt sich im Wesentlichen um 30 altnordische Trinklieder und Gesänge in altenglischer, gotischer Sprache oder in Latein.

(Wikipedia)

Dazu hab ich das hier gefunden: https://www.reddit.com/r/tolkienbooks/comments/1rk5g8/songs_for_the_philologists/  – hier hat jemand  eine Ausgabe von Tolkiens persönlicher Edition (inklusive handschriftlicher Vermerke) erstanden und davon ein paar Scans (Links finden sich auf dem angegebenen Link) angefertigt. Die sind ganz nett, um mal in die Texte reinzuschauen :-)

Liebe Grüße

Eldanor

Geschrieben (bearbeitet)

Danke, Eldanor! Das ist ja interessant. Trinklieder, die "dem Biergenuss frönen", das tönt ja ziemlich nach Tolkien. Erinnert mich an diesen Comic: 

 

sd080909.gif

Bearbeitet von Beleg Langbogen
  • 6 Jahre später...
Geschrieben

Worauf niemand zu hoffen wagte: HarperCollins wird in diesem Jahr "The Collected Poems of J.R.R. Tolkien" veröffentlichen und zwar in einer kritischen Edition von Wayne G. Hammond und Christina Scull. VÖ-Datum ist der 12. September 2024. Mehr Infos in: Too Many Books And Never Enough, dem Weblog von Hammond und Scull.

  • Danke 2
  • weiter so 1
Geschrieben

Mit über 1500 Seiten wird das Werk auch ziemlich mächtig. Leider schlägt sich das auch im Preis nieder. Der Tolkien Collector's Guide listet im Artikel zum Buch den veranschlagten Preis mit 90 £ also ca. 105 € im Druck. Mit engerem Budget wird man wohl etwas zusammensparen müssen.

Geschrieben
vor 6 Stunden schrieb Blauborke:

"The Collected Poems of J.R.R. Tolkien" veröffentlichen und zwar in einer kritischen Edition von Wayne G. Hammond und Christina Scull.

Gibt es denn auch eine einfche sprich unkommentierte, nicht kritische Ausgabe von Tolkiens Gedichten?

Geschrieben

 

vor einer Stunde schrieb Torshavn:

Gibt es denn auch eine einfche sprich unkommentierte, nicht kritische Ausgabe von Tolkiens Gedichten?

Du meinst, ob es diese Auswahl, einschließlich der bislang unveröffentlichten Gedichte, ohne Kommentare geben wird, also für diejenigen, die einfach nur die Gedichte lesen wollen? Davon ist mir nichts bekannt. Hältst du es denn für möglich, dass der Verlag gleichzeitig zwei unterschiedliche Ausgaben herausbringen könnte?

Geschrieben
Am 13.3.2024 um 17:50 schrieb Blauborke:

Hältst du es denn für möglich, dass der Verlag gleichzeitig zwei unterschiedliche Ausgaben herausbringen könnte?

Na ja. Beim englischen Tolkien Buchmarkt bin ich mir nicht sicher. Eine kritische Ausgabe ist teuer. Eine populäre allgemeine Ausgabe seiner Gedichte sicherlich günstiger. Ich kann mir vorstellen, das es sicherlich Leser gibt, die nur die Gedichte lesen möchten...

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