Elenna Geschrieben 30. Juni 2005 Geschrieben 30. Juni 2005 (bearbeitet) Was haltet ihr von dem Buch?? Ich finde es absolut großartig, hab es verschlungen. Vor allem bleibt es durch die einzelnen Handlungsstränge sehr spannend. Das hat mir schon bei Dan Brown`s Sakrileg so gut gefallen. Und das Thema mit dem Grabtuch fand ich toll. Das Ende wat ja wohl auch der Hammer (aber das verrat ich hier nicht). Wer das Buch noch nicht kennen sollte...hier mal ne kurze Zusammenfassung und ne Leseprobe: Zwei skrupellose Geheimbünde wollen das heilige Grabtuch Jesu an sich reißen: ein blutiger Konflikt, der tief in der Vergangenheit des Christentums wurzelt. Und noch heute ist ihnen jedes Mittel recht – sogar Mord. Nach einem Brandanschlag wird im Dom von Turin die Leiche eines Mannes mit herausgeschnittener Zunge gefunden. In Turin sitzt außerdem seit Jahren ein mysteriöser Mann in Haft – auch er ohne Zunge. Kommissar Marco Valoni steht vor einem Rätsel. Jemand scheint es auf die kostbarste Reliquie der Christenheit abgesehen zu haben: das Grabtuch Jesu. Wer aber sind die stummen Männer? Und was verbirgt Umberto D’Alaqua, dessen Unternehmen regelmäßig kirchliche Bauaufträge ausführt? Von dessen Ausstrahlung fasziniert, stößt Valonis Mitarbeiterin, die attraktive Archäologin Sofia Galloni, bald auf ein kompliziertes Geflecht zweier Geheimbünde. Darin verwoben: eine altchristliche Bruderschaft aus der Türkei und höchst einflussreiche Nachfahren des Templerordens. Als Sofia Galloni und die Journalistin Ana Jiménez den Geheimnissen der Bruderschaften gefährlich nahe kommen, schrecken diese selbst vor einem Mord nicht zurück ... "Julia Navarro hat ihren Roman virtuos komponiert: religiöser Fanatismus, Helden und Schurken im erbittertem Zweikampf, eine Liebe mit Hindernissen - ein rundum gelungener Schmöker." Sonntagsjournal "Die Autorin geht bei der Frage, woher denn das Grabtuch stammt, geradzu detektivisch vor, vermischt Realität und Fiktion derart gekonnt, daß ihre Darstellung sich wie eine Tatsachenversion ausnimmt." Westfälische Rundschau "Ein spannendes, packendes und lehrreiches Lesevergnügen." Bild am Sonntag Über den Autor Julia Navarro wurde 1953 in Madrid geboren. Als Journalistin arbeitet sie für verschiedene angesehene spanische Zeitschriften sowie Radio- und Fernsehsender. Nach mehreren Sachbüchern ist "Die stumme Bruderschaft" ihr erster Roman. Mit diesem Debüt in der Belletristik gelang ihr gleich ein fulminanter Auftakt: Sie entthronte Dan Brown als Spitzenreiter der spanischen Bestsellerliste. Julia Navarro lebt mit ihrem Mann und ihrem jüngsten Sohn in Madrid. Auszug aus Die stumme Bruderschaft von Julia Navarro, Sabine Giersberg. Copyright © 2005. Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber. Alle Rechte vorbehalten. 1 Abgarus, König von Edessa, wünscht Jesu dem guten Heilande, der im Lande um Jerusalem erschienen ist, alles Heil! Ich habe von dir gehört und von deinen Gesundmachungen, wie Du sie ohne Arzneimittel und Kräuter verrichtest. Denn die Rede geht, dass Du die Blinden sehen, die Lahmen gehen machst, dass Du die Aussätzigen reinigst, die unreinen Geister austreibst und diejenigen heilst, die mit langwierigen Krankheiten kämpfen, und endlich sogar die Toten aufweckst. Nachdem ich all diese Dinge von Dir gehört habe, so habe ich demnach bei mir selbst geschlossen, eines von beiden müsse wahr sein: entweder Du seiest Gott, vom Himmel herabgekommen – oder Du, der diese Ding tut, seiest doch zum wenigsten ein Sohn des großen Gottes! Ich ersuche Dich daher durch dieses Schreiben, Dich zu mir zu bemühen, um die Krankheit, die ich habe, zu heilen! Ich habe auch gehört, dass die Juden wider Dich murren und Dir Böses zufügen wollen. Ich habe eine zwar kleine, aber wohl geordnete Stadt, welche für uns beide hinreichend sein wird.« (Aus den apokryphen Schriften) Der junge König ließ die Feder ruhen und schaute den ebenfalls jungen Mann an, der reglos und respektvoll am anderen Ende des Gemachs wartete. »Bist du sicher, Josar?« »Glaubt mir, Herr …« Der Mann näherte sich mit schnellem Schritt und blieb vor dem Tisch stehen, an dem Abgarus schrieb. »Ich glaube dir, Josar, ich glaube dir, du bist seit Kindertagen der treueste Freund, den ich habe. Du hast mich nie enttäuscht, Josar, aber die Wundertaten dieses Juden, von denen du mir berichtest, sind so ungeheuerlich, dass ich befürchte, der Wunsch, mir zu helfen, hat deine Sinne verwirrt …« »Herr, Ihr müsst mir glauben, denn nur die, die an den Juden glauben, werden gerettet. Mein König, ich habe gesehen, wie Jesus allein durch Handauflegen die erloschenen Augen eines Blinden wieder sehend machte, ich habe gesehen, wie ein Gelähmter Jesus’ Gewand berührte und dieser ihm mit sanftem Blick zu gehen befahl, und zum Erstaunen aller trugen seine Beine ihn wie Euch die Eurigen. Mein König, ich habe gesehen, wie eine arme Leprakranke den Nazarener aus der Dunkelheit der Straße beobachtete, während alle vor ihr flohen, und Jesus ging auf sie zu und sagte: »Du bist geheilt.« Und die Frau schrie ungläubig: »Ich bin geheilt! Ich bin geheilt!« Und in der Tat, ihr Gesicht bekam wieder menschliche Züge und ihre vorher verborgenen Hände kamen völlig unversehrt zum Vorschein … Ich habe mit meinen eigenen Augen das größte Wunder gesehen, als ich Jesus und seinen Jüngern folgte und wir auf eine trauernde Familie stießen, die den Tod eines Angehörigen beweinte. Und er forderte den Toten auf, sich zu erheben, und Gott muss in der Stimme des Nazareners gewesen sein, denn ich schwöre Euch, mein König, der Mann öffnete die Augen, setzte sich auf und war selbst erstaunt, am Leben zu sein …« »Du hast Recht, Josar, ich muss glauben, um geheilt zu werden, ich will an diesen Jesus von Nazareth glauben, der der Sohn Gottes sein muss, wenn er die Toten wieder zum Leben erwecken kann. Aber wird er einen König heilen wollen, der sich von der Fleischeslust hat in Bann ziehen lassen?« »Abgarus, Jesus heilt nicht nur die Körper, sondern auch die Seelen; er versichert, wenn man sich reumütig zeigt und ein würdiges Leben ohne Sünde führen will, wird Gott einem verzeihen. Die Sünder finden Trost bei dem Nazarener …« »Dein Wort in Gottes Ohr … Ich selbst kann mir meine Lüsternheit gegenüber Ania nicht verzeihen. Diese Frau hat meinen Körper und meine Seele krank gemacht …« »Herr, wie hättest du wissen sollen, dass sie krank ist, dass das Geschenk des Königs von Tyrus eine Falle ist? Wie hättest du ahnen können, dass sie den Samen der Krankheit in sich trug und dich damit anstecken würde? Ania war die schönste Frau, die wir je gesehen haben, jeder Mann hätte wegen ihr den Verstand verloren …« »Aber ich bin König, Josar, und ich hätte meinen Verstand nicht verlieren dürfen, so schön die Tänzerin auch war … Jetzt leidet sie wegen ihrer Schönheit, denn die Spuren der Krankheit zerfressen ihr weißes, makelloses Antlitz, und ich, Josar, bin ständig schweißgebadet, Nebel legt sich über meinen Blick, und ich fürchte vor allem, dass die Krankheit meine Haut faulen lässt und …« Leise Schritte schreckten die Männer auf. Eine Frau mit dunklem Gesicht und schwarzem Haar schwebte lächelnd herein. Josar bewunderte sie. Ja, er bewunderte die feinen Gesichtszüge und das fröhliche Lächeln, das sie immer bereithielt; er bewunderte auch ihre Treue gegenüber dem König, kein Vorwurf war über ihre Lippen gekommen, als sie von Ania, der Tänzerin aus dem Kaukasus, die ihren Mann mit der schrecklichen Krankheit angesteckt hatte, verdrängt wurde. Abgarus ließ sich von niemandem mehr anfassen, denn er befürchtete, andere anzustecken. Er zeigte sich immer weniger in der Öffentlichkeit. Aber er hatte sich dem eisernen Willen der Königin nicht widersetzen können, die darauf bestand, sich persönlich um ihn zu kümmern, und nicht nur das, sie hauchte seiner Seele Mut ein, damit er an Josars Bericht über die Wunder des Nazareners glaubte. Der König sah sie traurig an. »Du bist es … Ich sprach mit Josar über den Nazarener. Ich werde ihm einen Brief mitgeben und ihn einladen, ich werde mein Reich mit ihm teilen.« »Josar sollte mit einer Leibgarde reisen, damit auf der Reise nichts passiert und er den Nazarener hierher geleiten kann …« »Ich werde drei oder vier Männer mitnehmen, das genügt. Die Römer sind sehr misstrauisch und ein ganzer Trupp Soldaten wird ihnen nicht gefallen. Jesus auch nicht. Ich hoffe, meine Herrin, dass ich die Mission erfüllen und Jesus überzeugen kann, mich zu begleiten. Ich werde allerdings schnelle Pferde mitnehmen, damit man Euch rasch Nachrichten überbringen kann, sobald ich in Jerusalem angekommen bin.« »Ich werde jetzt den Brief fertig schreiben, Josar …« »Im Morgengrauen werde ich mich auf den Weg machen, mein König.« 2 Das Feuer begann an den Bänken der Gläubigen zu nagen, und Rauch verdunkelte das Hauptschiff. Vier schwarz gekleidete Gestalten eilten zur Seitenkapelle. In einer Tür in der Nähe des Hauptaltars rang ein Mann nervös die Hände. Der hohe Ton der Sirenen der Feuerwehr kam immer näher. In wenigen Sekunden würden sie in die Kathedrale stürzen, und das bedeutete einen neuerlichen Fehlschlag. In der Tat, da waren sie schon. Der Mann eilte den schwarz gekleideten Gestalten entgegen und bedeutete ihnen, zu ihm zu kommen. Eine ging mutig weiter, die anderen wichen ängstlich vor dem Feuer zurück, das sie umzingelte. Die Zeit hatte sie eingeholt. Das Feuer war schneller gewesen als geplant. Die Gestalt, die unbedingt bis zur Seitenkapelle vordringen wollte, war jetzt ganz von den Flammen eingeschlossen. Sie wurde vom Feuer erfasst, aber sie nahm alle Kraft zusammen und riss sich die Kapuze vom Gesicht. Die anderen versuchten, zu ihr zu gelangen, aber das Feuer war bereits überall, und die Eingangstür der Kathedrale gab allmählich unter den Stößen der Feuerwehrleute nach. Schnell rannten sie zu dem Mann, der sie zitternd erwartete. Sie entkamen in derselben Sekunde durch die Seitentür, in der das Wasser aus den Schläuchen in die Kathedrale eindrang, während die vom Feuer umzingelte Gestalt verbrannte, ohne auch nur einen einzigen Laut von sich zu geben. Was die Flüchtenden nicht bemerkt hatten, war eine weitere, in der Dunkelheit einer Kanzel verborgene Gestalt, die jeden ihrer Schritte aufmerksam verfolgte. Sie hatte eine Pistole mit Schalldämpfer in der Hand, die nicht zum Einsatz gekommen war. Als die schwarzgekleideten Männer durch den Seiteneingang flohen, kletterte die Gestalt von der Kanzel, und bevor die Feuerwehrmänner sie sehen konnte, betätigte sie eine Geheimtür in der Wand und verschwand. Marco Valoni inhalierte den Rauch der Zigarette, der sich in seiner Kehle mit dem des Brandes vermischte. Er war hinausgegangen, um frische Luft zu schöpfen, während die Feuerwehrmänner die Loderasche löschten, die immer noch in der Nähe des rechten Flügels des Hauptaltars qualmte. Die Piazza war abgesperrt und die Carabinieri drängten die Neugierigen zurück, die wissen wollten, was in der Kathedrale los war. Um diese Zeit wimmelte es in Turin von Leuten, die erfahren wollten, ob das Grabtuch Christi Schaden genommen hatte. Marco hatte die Journalisten, die über das Ereignis berichteten, gebeten, die Leute zu beruhigen: das Grabtuch war unversehrt. Nicht gesagt hatte er ihnen allerdings, dass jemand in den Flammen umgekommen war. Wer, wusste man noch nicht. Wieder ein Brand. Die alte Kathedrale wurde vom Feuer verfolgt. Aber Marco glaubte nicht an Zufälle, und in der Kathedrale von Turin passierte einfach zu viel: mehrere versuchte Diebstähle, und, soweit er sich erinnerte, drei Brandstiftungen. Bei einer, nach dem Zweiten Weltkrieg, hatte man die Leichen von zwei verbrannten Männern gefunden. Die Autopsie hatte ergeben, dass sie etwa fünfundzwanzig Jahre alt waren und dass sie durch Pistolenkugeln getötet wurden, bevor sie verbrannten. Aber das war noch nicht alles: Sie hatten keine Zunge mehr, man hatte sie ihnen herausgeschnitten. Aber warum? Und wer hatte sie erschossen? Man hatte nie herausgefunden, wer sie waren. Ein ungelöster Fall. Weder die Gläubigen noch die Öffentlichkeit wussten, dass das Grabtuch im letzten Jahrhundert lange Zeit außerhalb der Kathedrale aufbewahrt wurde. Vielleicht hatte es deswegen all die Vorfälle heil überstanden. Ein Tresor in der Nationalbank hatte dem Tuch als Zufluchtsort gedient, und es hatte den Tresor nur für Ausstellungen und immer unter strengsten Sicherheitsmaßnahmen verlassen. Dennoch war das Tuch mehrfach ernsthaft in Gefahr gewesen. Marco erinnerte sich noch an den Brand vom 12. April 1997. Wie auch nicht, denn an jenem frühen Morgen war er mit seinen Kollegen vom Dezernat für Kunstdelikte bei einem Saufgelage gewesen. Er war damals fünfzig Jahre alt und hatte gerade eine schwierige Herzoperation überstanden. Zwei Infarkte und eine lebensgefährliche Operation hatten als Argument ausgereicht, um sich von Giorgio Marchesi, seinem Kardiologen und Schwager, überzeugen zu lassen, dass er sich künftig dem dolce far niente widmen oder sich bestenfalls noch um einen ruhigen Schreibtischjob bewerben sollte, einen von denen, wo man in aller Ruhe Zeitung lesen und später am Vormittag in einer nahe gelegenen Kneipe einen Cappuccino trinken kann. Zum Leidwesen seiner Frau hatte er sich für den Schreibtischjob entschieden. Paola hatte darauf bestanden, dass er in den Ruhestand ging. Sie hatte ihn mit dem Argument zu ködern versucht, er habe doch schon alles im Dezernat erreicht – er war der Direktor –, nun, am Höhepunkt seiner Karriere, solle er endlich das Leben genießen. Aber er hatte sich strikt geweigert. Er zog es vor, jeden Tag in ein Büro zu gehen, welcher Art auch immer, statt sich mit fünfzig zum alten Eisen werfen zu lassen. Seinen Posten als Direktor des Dezernats hatte er allerdings aufgegeben und war daraufhin, trotz der Proteste von Paola und Giorgio, mit seinen Kollegen losgezogen, um zu essen und sich zu betrinken. Gemeinsam hatten sie in den letzten zwanzig Jahren täglich vierzehn, fünfzehn Stunden damit zugebracht, die Mafiabanden zu verfolgen, die Kunstwerke über die Grenze verschoben; sie hatten Fälschungen aufgespürt und das riesige Kunstvermögen Italiens geschützt. Das Dezernat für Kunstdelikte war eine Spezialabteilung, die dem Innen- und dem Kulturministerium unterstellt war. Es bestand aus Polizisten – Carabinieri –, aber auch aus einer stattlichen Anzahl von Archäologen, Historikern, Experten in mittelalterlicher, moderner, sakraler Kunst … Er hatte diesem Dezernat die besten Jahre seines Lebens geopfert. Es war ihm nicht leicht gefallen, die Karriereleiter hinaufzuklettern. Sein Vater war Tankwart gewesen, seine Mutter Hausfrau. Sie hatten gerade mal das Nötigste zum Leben. Er konnte nur mit Hilfe von Stipendien studieren und folgte schließlich dem Wunsch seiner Mutter, sich eine sichere Stelle beim Staat zu suchen. Ein Freund seines Vaters, ein Polizist, der immer an der Tankstelle tankte, hatte ihm geholfen, sich bei den Carabinieri zu bewerben. Mit Erfolg, aber Marco war nicht zum Polizisten berufen, und so machte er abends nach der Arbeit einen Magister in Geschichte und bat dann um Versetzung an das Dezernat für Kunstdelikte. Er kannte sich auf beiden Gebieten aus, er war Polizist und Historiker, und nach und nach stieg er mit Fleiß und Glück die Karriereleiter nach oben bis an die Spitze. Wie hatte er es genossen, ganz Italien zu bereisen! Und andere Länder kennen zu lernen! An der Universität von Rom hatte er Paola kennen gelernt. Sie studierte mittelalterliche Kunst. Es war Liebe auf den ersten Blick und nach wenigen Monaten heirateten sie. Sie waren fünfundzwanzig Jahre zusammen, hatten zwei Kinder und waren das, was man ein glückliches Paar nennt. Paola unterrichtete an der Universität und hatte ihm nie vorgeworfen, dass er so selten zu Hause war. Nur einmal hatte es in ihrem Leben einen ernstzunehmenden Streit gegeben. Das war, als Marco nach jenem Brand im Frühjahr 1997 aus Turin kam und erklärte, er werde sich nicht pensionieren lassen, Paola solle sich aber keine Sorgen machen, er werde nicht mehr reisen, nicht mehr unterwegs sein, er werde nur noch von seinem Büro aus arbeiten. Giorgio, sein Arzt, sagte nur, er sei verrückt. Seine Kollegen aber begrüßten die Entscheidung. Was ihn dazu bewogen hatte, seine Meinung zu ändern, war die Überzeugung, dass dieser Brand in der Kathedrale kein Zufall war, so sehr er der Presse gegenüber auch das Gegenteil behauptete. Und da war er nun und ermittelte bei einem weiteren Brand in der Kathedrale von Turin. Es war noch keine zwei Jahre her, da hatte er wegen eines versuchten Diebstahls ermittelt. Sie hatten den Täter durch Zufall erwischt. Zwar ohne Beute, aber er hatte offensichtlich nur nicht genug Zeit gehabt, etwas zu stehlen. Einem Priester, der an der Kathedrale vorbeiging, war ein Mann aufgefallen, der erschreckt vor dem Alarm floh, der lauter tönte als sämtliche Glocken. Er lief hinter ihm her und rief »Haltet den Dieb, haltet den Dieb!«, und mit Hilfe von zwei Passanten konnte der Mann nach einem kurzen Handgemenge überwältigt werden. Aber sie konnten nichts über ihn herausfinden: Er hatte keine Zunge. Sie war ihm herausgeschnitten worden. Und man konnte auch keine Fingerabdrücke nehmen, denn die Fingerspitzen waren pure Brandnarben; das heißt, er war ein Mensch ohne Vaterland und ohne Namen, der seither im Gefängnis von Turin saß. Nein, Marco glaubte nicht an Zufälle, es war kein Zufall, dass die Diebe aus der Kathedrale von Turin keine Zunge und verbrannte Fingerspitzen hatten. Das Grabtuch wurde vom Feuer verfolgt. Marco hatte seine Geschichte studiert und herausgefunden, dass es mehrere Brandanschläge überlebt hatte, seit es in den Besitz des Hauses Savoyen gelangt war. Zum Beispiel hatte es in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1532 in der Sakristei der Kapelle, wo das Tuch aufbewahrt wurde, angefangen zu brennen, und die Flammen hatten die Reliquie fast schon erreicht, die damals in einer silbernen Vitrine, einem Geschenk der Margarethe von Österreich, verwahrt wurde. Ein Jahrhundert später wäre ein anderer Brand wiederum fast bis zu dem Leichentuch vorgedrungen. Zwei Männer wurden dabei überrascht, und als sie sahen, dass sie verloren waren, stürzten sie sich in das Feuer, ohne einen Laut von sich zu geben. Hatten vielleicht auch sie keine Zunge gehabt? Man würde es nie mehr in Erfahrung bringen. Auch nachdem das Haus Savoyen das Leichentuch im Jahr 1578 der Kathedrale von Turin übergeben hatte, war die Brandserie nicht abgerissen. Es war nicht ein Jahrhundert vergangen, in dem man nicht versucht hatte, das Tuch zu stehlen oder in Brand zu setzen, und obwohl man in den letzten Jahren den Tätern immer auf den Fersen gewesen war, blieb das Ergebnis ernüchternd: Sie hatten keine Zunge und waren folglich stumm. Und die Leiche, die man gerade ins Leichenschauhaus gebracht hatte? Eine Stimme holte ihn in die Realität zurück. »Chef, der Kardinal ist da; er ist gerade angekommen, Sie wissen ja, er war in Rom … Er will mit Ihnen sprechen, der Vorfall scheint ihn sehr mitzunehmen.« »Kein Wunder. Er hat aber auch Pech. Es ist nicht einmal sechs Jahre her, da hat man ihm die Kathedrale in Brand gesetzt. Vor zwei Jahren dann der versuchte Diebstahl, und jetzt schon wieder ein Brand.« »Ja, er bedauert, dass er sich noch einmal zu Umbaumaßnahmen hat überreden lassen, er sagt, das sei das letzte Mal, die Kathedrale habe Hunderte von Jahren überstanden und mit der ganzen Umbauerei und Stümperei gehe schließlich noch alles kaputt.« Marco öffnete eine Seitentür in der Wand der Kathedrale mit der Aufschrift »Büro«. Drei oder vier Priester liefen aufgeregt hin und her; zwei ältere Frauen, die sich einen Tisch teilten, wirkten sehr beschäftigt, während einige seiner Beamten, die im Inneren der Kathedrale Spuren sichern sollten, wiederholt rein und raus gelaufen kamen. Ein junger Priester, ungefähr dreißig, trat auf ihn zu und streckte ihm die Hand entgegen. Sein Händedruck war fest. »Ich bin Pater Yves.« »Und ich Marco Valoni.« »Ja, ich weiß. Kommen Sie mit, Hochwürden wartet schon auf Sie.« Der Priester öffnete eine schwere Tür zu einem holzvertäfelten Raum mit Renaissance-Bildern, einer Madonna, einem Christus, einem Heiligen Abendmahl … Auf dem Tisch lag ein Kruzifix aus gehämmertem Silber. Nach Marcos Schätzung war es mindestens dreihundert Jahre alt. Der Kardinal hatte ein freundliches Gesicht, war aber durch das Ereignis sichtlich aufgewühlt. »Setzen Sie sich Signor Valoni.« »Danke, Hochwürden.« »Was ist denn eigentlich passiert? Weiß man schon, wer der Tote ist?« »Noch nicht, Hochwürden. Bis jetzt weist alles darauf hin, dass durch die Bauarbeiten ein Kurzschluss entstanden ist und dass es dadurch zu dem Brand kam.« »Schon wieder!« (Amazon) :-) Bearbeitet 30. Juni 2005 von Elenna Zitieren
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