Gast Nurashin Geschrieben 16. November 2006 Geschrieben 16. November 2006 Eine Story, die ich letztens angefangen habe. Crimson Skies ~ Blutrote Himmel © Nurashin Prolog Die Versammlung Es war eisig auf dem Friedhof, so dass sich kleine Eiskristalle an den Blättern und Zweigen der alten, knorrigen Eschen sammelten. Nebel wallte zwischen den Grabsteinen umher und verbarg die Kerzen, die zu hunderten um eine Gruft herum aufgestellt waren, unter einem gräulichen Schleier. Langsam schälten sich Figuren aus der Dunkelheit und traten in das tanzende Licht der Kerzen. Alle Ankömmlinge waren in schwarze Roben gekleidet, ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen. Es war eine unheimliche Stille auf dem Friedhof, als Ruhe einkehrte. Für einen Moment schien der Wind selber den Atem anzuhalten, die Welt still zu stehen, bevor ein Summen die Luft erfüllte. Langsam steigerte es sich, wurde lauter und eindringlicher. Die schwachen Kerzenflammen begannen wild zu flackern, wie als striche eine kräftige Böe über sie hinweg und erleuchteten Zeichen, welche an die Wand der Gruft gezeichnet worden waren. Im Schein des Lichtes wirkten sie wie böse Omen. Die braune Farbe war bereits getrocknet und wurde an einigen Stellen brüchig. Dennoch formten die Linien verbotene Runen und Schriftzeichen, welche noch kraftvoll genug waren, alte Mächte zu erwecken. Schließlich steigerte sich das Summen zu einem rauschenden Crescendo, aus welchen sich langsam Worte zu bilden schienen. Worte in einer alten, längst vergessen geglaubten Sprache, unter welcher die Erde selber zu erbeben schien. Mit einem Schlag war der Friedhof in tiefste Dunkelheit getaucht. Die Kerzen waren erloschen, im selben Moment, in welchem sich dichte Wolken vor die glänzenden Sterne am Abendhimmel geschoben hatten. Wieder herrschte für den Moment eines Atemzugs tiefste Stille. Dann erhob ein Mann seine Stimme. Klar und deutlich hing sie über den verlassenen Gräbern. Die Zusammenkunft der finsteren Gestalten hingegen begann wieder mit dem unheimlichen, tief aus der Kehle kommenden Summen. "Höret, Ältere Mächte der Dunkelheit!" Echos brachen sich auf grausame Art und Weise in der Dunkelheit. "Wächter des Nordens, Ther, Herr über Zerstörung, Hüter des Tores, wir rufen dich. Wächter des Südens, Nuit der du da herrscht über Tod und Verderbnis, wir flehen dich an, höre unsere Worte. Wächterin des Ostens, Kalyena, Herrin über Verlangen und Verführerin der Unschuld, sei heute unser Gast. Azeran, Wächter des Westens und Grausamer Herrscher, deine Diener brauchen dich. Kommet zusammen, bringt Unheil über die Sterblichen Lande und nehmet unser Opfer an." Kurz machte der Mann eine Pause. Bewegung kehrte in die Reihen der schwarz Gewandeten ein. Plötzlich drang ein greller Schrei durch die Nacht. Im nächsten Moment teilte sich der Kreis der Menschen und ein Mädchen wurde herbeigeführt. Ihre schlanken Arme waren hinter ihrem Rücken zusammengebunden und sie wurde von zwei kräftigen Männern herbeigezogen. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrte die Versammlung voller Angst an. Die Gewissheit des Todes stand ihr ins Gesicht geschrieben. "Bringt sie her!" Die Stimme des Priesters scholl durch die Nacht, befehlend und eisig. Die beiden Wächter nickten und zerrten das Mädchen zu der Gruft, wo sie ihr einen Tritt in die Kniekehlen verpassten, so dass sie einknickte und nun vor dem Grab im Dreck lag. Im selben Moment trat der Priester einen Schritt nach vorne und seine Gestalt löste sich aus dem Nebel, der die Gruft wie eine Decke umgab. "Geht!" Mit diesem einen Wort ließ er sich neben dem Mädchen auf den Boden nieder. Um seinen Hals glimmte ein Amulett in einem blutigen Rot, während in seiner Hand ein Dolch sich in einem tiefen Schwarz gegen die Nacht abhob. "Wie heißt du?" Beinahe sanft ließ der Priester seine freie Hand durch das ungekämmte, mausbraune Haar des Mädchens gleiten. Er bekam keine Antwort. Das Mädchen zitterte bloß am ganzen Leib und konnte nicht sprechen. Doch dem Priester war es egal. Elegant erhob er sich wieder und breitete die Arme aus, während er seinen Blick gen Himmel richtete. Die dunklen Wolken brachen auf, doch anstatt der Sterne, erstrahlte ein blutroter Mond am Nachtfirmament. Wieder hob die Gesellschaft mit dem Summen an. Wie ein Chor begleiteten sie die Worte ihres Priesters. "Blut soll fließen diese Nacht. Nehmt unser Opfer an. Zerstörung ist bereits geschehen, das Verlangen gestillt. Nun wird der Tod sie ereilen, ganz im Sinne des Herrschers. Schenkt uns den Erlöser. Ath-maka-nr-le. Lasst ihn auf die Erde steigen und die Vernichtung über die Ungläubigen bringen!" Damit griff der Priester nach dem Mädchen und zog es unsanft auf die Beine. Ein erstickter Schrei drang aus ihrer Kehle. Mit einer Bewegung schlitzte der Mann das Leinenhemd der anderen auf. Mit einem kurzen Geräusch rissen die Fäden und das Oberhemd fiel einem toten Vogel gleich zu Boden. "Betet, meine Kinder! Betet für seine Geburt. Lasst ihn leben und uns für immer vom Joch der Schwachen befreien!" Mit diesen Worten hob der Priester seinen Dolch. Das unheimliche rote Licht des Blutmondes wurde von der silbrigen Klinge reflektiert und es schien fast so, als würde bereits jetzt Blut den Dolch beschmutzen. "Ther, Nuit, Kaleyna, Azeran, Herren der Finsternis!" Mit diesen Worten ließ der Mann die Waffe auf sein Opfer zurasen. Kapitel Eins Nathaniel Die Luft war stickig und verbraucht in dem kleinen Klassenzimmer. Mit einem Gähnen sah Nathaniel sich um. Die anderen Jungen, welche mit ihm in einem Raum saßen, schienen müde und abgelenkt zu sein. Einer von ihnen blickte verträumt aus dem Fenster. Ihr Lehrer schien nichts zu bemerken, denn er las unbeeindruckt weiter aus einem dicken Buch vor. Jedoch hörte ihm schon seit geraumer Weile keiner der zehn Jungen mehr zu. Nur Nathaniel hatte versucht, dem eintönigen Monolog des Dorfältesten zu folgen, doch als Seko, der älteste von der kleinen Gruppe, begann, mit Kletten zu werfen, war es auch mit seiner Konzentration vorbei gewesen. Mit einem Seufzen zupfte der achtjährige Junge sich die Pflanzen von der Kleidung und betrachtete sie. "Hey, Nath", hörte er Narek hinter sich wispern. Langsam wandte der Junge sich um. "Magst du mir die Klette geben?" Der blonde Bäckersohn lächelte bittend und Nathaniel nickte stumm. Mit einer schnellen Handbewegung reichte er seinem Mitschüler die klebrigen Blüten. Dieser grinste nun noch breiter und blickte direkt in Adriens Richtung. Der bullige Junge war offensichtlich eingeschlafen. Seinen Kopf hatte er auf seine Arme gelegt. Es fehlte bloß noch, dass er anfing zu schnarchen. Nathaniel konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und beobachtete aus den Augenwinkeln Narek. Dieser zielte gerade. Konzentriert leckte er sich über die Lippen, während er ein Auge geschlossen hatte und immer wieder die Hand in Richtung des Schlafenden zucken ließ. Schließlich warf er. Die Klette traf daneben. Statt Adriens breiten Rücken flog die Blüte über diesen hinweg und landete direkt auf dem Buch ihres Lehrers. Narek und Nathaniel, die dieses beobachtet hatten, taten beide sofort wieder so, als hörten sie gespannt zu. Die anderen acht Jungen jedoch bekamen nichts von alledem mit. So fixierten sich die kurzsichtigen Augen des Dorfältesten sofort auf diese. Laut räusperte er sich und schlug sein Buch zu. Mit einem Stöhnen erhob er sich und schritt direkt zu Adrien. Seinen Rohrstock nahm er noch im Gehen auf. "Herr Kesseth!" Mit diesen Worten ließ der Lehrer den Stock durch die Luft zischen. Mit einem Krachen traf er auf der Tischplatte auf. Mit einem Ruck setzte Adrien sich auf. "Wa... was?" nuschelte er, bevor er den Älteren wie einen Racheengel vor seinem Tisch stehen sah, den Rohrstock drohend erhoben. Er mochte es, damit seinen Schülern Respekt einzuflößen. Nathaniel hatte schon lange erkannt, dass der Dorfälteste jedoch niemals körperliche Bestrafung einsetzen würde. Adrien aber war sich dessen nicht bewusst, denn mit einem misstrauischen Blick schielte er auf den Stock. "Herr Lehrer, verzeiht", nuschelte er. "Ich war bloß so müde!" "Dann geh früher schlafen, Adrien Nercon Kesseth! Dafür wirst du zehn Seiten aus deinem Lesebuch abschreiben!" Gerans Stimme klang unnachgiebig, während er sich zu den anderen Jungen wandte. "Genau wie ihr!" Seko verzog das Gesicht, sagte jedoch nichts. Jeder im Dorf hatte Respekt vor dem alten Mann, der trotz seiner achtzig Jahre immer noch wie ein fünfzigjähriger wirkte. Schließlich trat Geran zu Narek und Nathaniel. "Nun, Narek Bedric Merkath und Nathaniel Kalyan Ayeth. Ihr denkt wohl, dass ihr davon kommen werdet, doch ich weiß, dass ihr, genauso wie der Rest der Klasse, nicht meinen Worten der Weisheit gelauscht habt und ehrlich gesagt, hätte ich anderes von dir erwartet, Herr Ayeth." Der Dorfälteste stemmte seine freie Hand in die Hüfte, während er mit dem Rohrstock vor Nathaniels Nase herumfuchtelte. "Ihr werdet, genau wie die anderen, zehn Seiten aus eurem Lehrbuch schreiben. Doch dazu, dass ihr eure Mitschüler ans Messer geliefert hättet, während ihr verschont bleibt, erwarte ich zu morgen noch einen Aufsatz über fünf Seiten zu dem Thema 'Verhalten in Gruppen'. Habt ihr verstanden?" Die beiden Schüler blickten ihren Lehrer mittlerweile mit offenen Mündern an. Schließlich nickte Nathaniel. "Verstanden", nuschelte er und schielte kurz zu Narek, welcher Geran mittlerweile mit zusammengekniffenen Augen anstarrte, doch schließlich senkte er den Blick. "Ja", flüsterte er und schnitt eine Grimasse. "Die Seiten alle bis morgen?" Geran nickte. Nathaniel lächelte leise in sich hinein. Im Gegensatz zu dem anderen, war es für ihn keine Bestrafung, viel zu schreiben und zu lernen, konnte er doch so aus der Schmiede fernbleiben, in dem sein Vater ihn sonst erwartete. Der Dorfälteste schien Nathaniels Gedanken zu erraten, denn er richtete seinen Blick direkt auf den Jungen und blinzelte etwas. "Für dich scheint das wohl keine Bestrafung zu sein", meinte er und kratzte sich am Kinn. "Stimmt, du warst der Bursche, der so gerne lernt. Nun gut, dann habe ich eine andere Strafe für dich. Morgen wirst du anstatt zur Schule kommen, Vivrey auf die Weiden begleiten und ihm bei der Versorgung der an Schwarzfieber erkrankten Ochsen helfen!" "Das könnt Ihr nicht..." wandte der Junge entgeistert ein. Er liebte es, zu lernen und körperliche Arbeit war ihm zuwider. Jede Stunde, die er mit seinem Vater Tanan in der Schmiede verbrachte, hasste er mehr als das allwinterliche Hungern. Geran zuckte als Antwort bloß mit den Schultern. "Ich kann. Ich muss dir wohl beibringen, dass manche Dinge einfach nicht in Ordnung sind! Also wirst du Vivrey helfen!" Nathaniel spürte die mitleidigen Blicke seiner Mitschüler auf sich. Im gesamten Dorf war Vivrey als Sonderling verschrien. Nie empfing er Besuch. Er blieb immer allein für sich und behauptete, er könne mit Magie die Tiere des Dorfes heilen und Krankheiten von den Dorfbewohnern fernhalten. Doch bis jetzt hatte er weder das eine noch das andere zur Zufriedenheit der Dörfler erledigt. Mittlerweile bezweifelten die Bewohner Katheas, dass der alte Mann auch nur ein Fünkchen Magie besaß, doch dieser argumentierte immer dagegen, in dem er behauptete, dass die unwissenden Dörfler nicht einmal Magie erkennen würden, wenn sie vor ihnen Salti schlagen würde. Tatsächlich hatte noch keiner der Einwohner je gesehen, wie diese geheimnisvolle Macht wirkte. Für viele war sie bloß eine Legende, die man kleinen Kindern vor dem Schlafengehen erzählte. Leise seufzte der Junge und blickte noch einmal zu seinem Lehrer auf. Er wünschte sich, ein anderer würde ihn unterrichten. Geran konnte dem Achtjährigen kaum noch etwas beibringen, denn er hatte die Bücher, aus welchen sie lernten, bereits vor Jahren durchgelesen. Manchmal vermutete Nathaniel, dass er mehr wusste als der Dorfälteste, zumindest, was das Bücherwissen anging. Doch ihm war auch bewusst, dass der Ältere die Erfahrung besaß, die ihm selber fehlte. "Nun aber Schluss für heute!" drang in diesem Moment Gerans Stimme in seine Gedanken und der Junge schreckte auf. "Endlich", murmelte er und nahm sein Buch auf. Gerade, als er aus dem Klassenzimmer treten wollte, hielt der Dorfälteste ihn zurück. "Nathaniel", rief er. "Komm her!" Die Worte duldeten keinen Widerspruch und langsam, beinahe unwillig, wandte der Junge sich wieder um und trat zu dem Lehrerpult. "Ja?" Seine Stimme spiegelte nichts seiner Unwilligkeit wider. "Du solltest jetzt bereits zu Vivrey gehen, um ihm deine Hilfe für morgen anzukündigen." Nathaniel verdrehte innerlich die Augen bei diesem Satz, nickte aber verstehend. "Ja, Meister Geran, ich werde zu ihm gehen und ihm meine Hilfe anbieten." Ein wenig Ungeduld lag in der Stimme des Achtjährigen und Geran bemerkte diese sehr wohl. Nachdenklich betrachtete er den Jungen. Er mochte ihn nicht, vermutete er doch, dass der andere ein Kind der Dämonen war. Die einzelne weiße Strähne, die sich durch sein ansonsten tiefschwarzes, schulterlanges Haar zog, war für den alten Mann Beweis genug. Doch bisher hatte er keine handfesten Beweise für seine Vermutungen finden können und so blieb ihm nur abwarten. Irgendwann würde sich in dem Jungen schon sein dämonisches Erbe zeigen, dessen war Geran sich sicher. "Ist noch etwas, Meister?" Die helle Jungenstimme schreckte den Dorfältesten auf und er schüttelte ruppig den Kopf. "Nein, du kannst gehen!" Damit entließ er den Neunjährigen und wandte sich wieder seinen dunklen Gedanken zu. Doch sein Blick lag noch eine ganze Zeit auf dem anderen. Dieser runzelte nur die Stirn und schüttelte den Kopf. Nathaniel spürte sehr wohl, dass der Dorfälteste ihn nicht mochte, konnte sich auch vorstellen aus welchem Grunde. Langsam hob er seine Hand, berührte sacht die weiße Strähne und seufzte. Kurz überlegte er, bevor er seinen Kopf schüttelte. Eine Bewegung am Rande seines Gesichtsfeldes lenkte ihn dann jedoch von seinen Überlegungen ab. Kurz blickte er sich um. Ein dunkler Schemen flog in den Schatten der Häuser davon. Beinahe wirkte es, als wäre es ein Mensch, doch bei genauerem Hinsehen erkannte Nathaniel, dass die Übergänge zu fließend, der Körper zu ätherisch wirkte, um ein Dorfbewohner zu sein. "Schon wieder ein Schatten", murmelte der Junge. Vorsichtig trat er auf den Schemen zu und streckte seine freie Hand aus. "Hallo", rief er zu dem Wesen aus. Er wusste, dass keine Gefahr von diesen Schatten ausging. Schon oft hatte er diese Wesen gesehen, Wesen, die niemand anderes zu erblicken schien. Doch etwas war anders. Anstatt dass der Schemen auf ihn zukam und ebenfalls seine Hand ausstreckte, wie um ihn zu berühren, wandte das Wesen sich plötzlich um und floh regelrecht vor Nathaniel. Dieser runzelte beunruhigt seine Stirn. Er spürte, dass es kein gutes Zeichen war. "Was ist los?" fragte er in die Stille des Nachmittages ohne eine Antwort zu erwarten. So aufgewühlt machte der Junge sich auf den Weg zu Vivrey, welcher ein wenig abseits des Dorfes lebte. Kapitel Zwei Der Sonderling Das Haus wirkte sonderbar friedlich. An den hölzernen Wänden rankte sich Efeu hoch und im Garten blühten unzählige Blumen. Überrascht erkannte Nathaniel, dass der Sonderling scheinbar Rosen sehr mochte, denn an einer überdachten Sitzecke hatte Vivrey Kletterrosen gepflanzt. Dort war es auch, dass Nathaniel den alten Mann fand. Als der Junge auf ihn zutrat, schälte dieser gerade frischen Salat in eine Holzschüssel und er schien seinen Besucher nicht zu bemerken. So räusperte der Junge sich leicht. "Meister Vivrey?" fragte er leise, aber nicht ängstlich. Überrascht ließ der Angesprochene das Messer in die Schüssel fallen und seine Augen richteten sich auf Nathaniel. Kurz runzelte der Heiler die Stirn. Er schien zu überlegen, ob er seinen Besucher kannte und schließlich nickte er. "Nathaniel Ayeth", begrüßte er den anderen widerwillig. Es war bekannt, dass der Sonderling niemanden bei sich empfing. "Was willst du hier, Kleiner?" Auch wenn Vivrey nicht direkt unfreundlich war, so hörte Nathaniel sehr wohl den Unmut in seiner Stimme. Leicht verbeugte er sich. "Meister Vivrey", begann er und seine grünen Augen musterten den anderen Mann aufmerksam. "Verzeiht, dass ich Euch störe, doch ich wurde von Meister Geran beauftragt, heute zu Euch zu gehen, damit ich Euch etwas mitteilen kann." Der Junge wählte seine Worte mit Bedacht. Dies merkte auch sein Gegenüber und überrascht hob er eine Augenbraue. Er hatte nicht erwartet, dass der andere so höflich sein konnte, hatte er doch die ruppigen Spiele der Jungen oft genug beobachtet und mit einem leicht traurigen Lächeln den Kopf über sie geschüttelt. "Worum geht es?" wollte der Ältere sogleich etwas freundlicher wissen. "Nun", murmelte Nathaniel und überlegte, wie er den Auftrag des Dorfältesten am besten erklären konnte, "es geht darum, dass Meister Geran mir aufgetragen hat, zu Euch zu kommen, damit ich Euch morgen bei Euren Aufgaben helfen kann." "So, hat er das?" Vivrey seufzte. Der Dorfvorsteher wusste um seine Abneigung gegen das ungläubige Dorfvolk und in Gerans Fall lag die Antipathie auf beiden Seiten. "Ja." Nathaniel spürte die Ablehnung auf der Seite des anderen und wünschte sich nach Hause, wo er sich in seinem Buch vergraben hätte. "Er war der Meinung, dass ich lernen müsste, was sich geziemt und was nicht." Die Augen des Heilers verengten sich bei den Worten. Er hatte den anderen wohl doch falsch eingeschätzt. Gerade hatte er ein etwas besseres Bild von dem Jungen bekommen, da kam dieser ihm mit so einer Nachricht an. "Und wieso hat Geran dir dann keine Zeilen aufgegeben? Ich vermute, das ist die normale Vorgehensweise?" Die Worte klangen nun kühler als vorher und aus diesem Grunde schluckte der Junge kurz. "Nun, er meinte, dass dieses für mich keine Strafe sei", gab er schließlich zurück und beobachtete, wie Vivrey sich etwas zu ihm vorbeugte. Sein stechender Blick machte Nathaniel nervös und er konnte eine unerklärbare Macht von dem Älteren ausgehen spüren. "Aha. Wieso?" Der Junge fühlte sich mittlerweile wie bei einem Verhör. Doch er sagte nichts dazu, sondern schüttelte stattdessen nur den Kopf. "Meister Geran war der Meinung, dass ich, da ich gerne lerne, anstatt morgen zur Schule zu kommen, Euch bei Euren Pflichten auf den Weiden helfen soll." Seufzend nickte Vivrey. "Gut, ich habe dich gehört. Ich werde mich auch nicht dem Willen Gerans widersetzen. Also werde ich dich morgen Früh um fünf Uhr hier erwarten. Wenn du zu spät kommst, werde ich nicht auf dich warten. Und sei dir bewusst, dass ich das nicht aus Sympathie für dich mache. Ich möchte bloß Streitigkeiten mit Geran vermeiden." Nathaniel nickte. "Ich verstehe, Meister Vivrey." Etwas anderes hatte der Junge auch nicht erwartet. So verneigte er sich noch einmal kurz vor dem Heiler. "Ich danke Euch", meinte er dann noch zum Abschied höflich und wandte sich um, um nach Hause zu gehen. Am nächsten Morgen wartete Nathaniel pünktlich vor Vivreys Haus. Der Morgentau glitzerte auf den Efeublättern und die Vögel trällerten fröhlich ihre Melodien. Es versprach wieder ein sonniger und heißer Tag zu werden. Seufzend schüttelte Nathaniel den Kopf. Wie viel lieber er heute wieder etwas gelernt hätte. Aber stattdessen musste er den Dorfsonderling auf die Weiden begleiten und vermutlich Ochsen einfangen und Packesel für Vivrey spielen. "Nathaniel Ayeth?" riss ihn mit einem Mal die ungeduldige Stimme des Heilers aus seinen Gedanken. Der Junge hatte gar nicht gemerkt, dass der andere aus dem Haus gekommen war. Sofort wandte er sich zu dem Älteren um und verneigte sich. "Meister Vivrey?" Dieser nickte ihm nur zu. "Los!" meinte er dann kurz angebunden und begann in Richtung der Weiden vor zu gehen. Seufzend folgte Nathaniel ihm. Vivrey beachtete ihn keines Blickes. Er hatte nicht vor, dem Jungen große Aufmerksamkeit zu schenken, war er für den Heiler bloß ein unwissender Dorfbewohner wie all die anderen. Der Heiler erinnerte sich noch genau an die Worte der Bewohner Katheas, als er aus der Stadt hergezogen war. Mitleidig hatten sie seine Worte belächelt, als er erzählte, dass er ein Magier sei, hatten ihn ausgelacht und niemals in die Dorfgemeinschaft aufgenommen. "Wir brauchen keine Spinner hier", hatten sie gesagt. Doch aller Unfreundlichkeit zum Trotz hatte der Mann Kathea nie verlassen. Mit der Zeit war er der Heiler des Dorfes geworden, doch hatte er beschlossen, seine magischen Fähigkeiten nur unter besonderen Umständen einzusetzen. Sollten die Einwohner dieses Dorfes doch glauben, dass Magie bloß eine Kindergeschichte sei. "Meister Vivrey?" sprach ihn mit einem Male der Junge an. Unwillig blickte der Ältere zu ihm. "Ja, was ist?" Nathaniel legte kurz den Kopf schief und deutete in eine Richtung. "Etwas ist hier nicht in Ordnung", meinte er. "Ihr solltet nicht weiter gehen." Als der Heiler in die Richtung blickte, in welche der Junge zeigte, erblickte er nichts außer einem alten, verdorrten Baum. Mit hochgezogenen Augenbrauen wandte er sich wieder Nathaniel zu. Versuchte der andere ihn auf den Arm zu nehmen? Der Achtjährige spürte den Blick auf sich ruhen und schüttelte den Kopf. "Ihr könnt es nicht sehen, oder, Meister?" "Was sehen?" Der Tonfall in Vivreys Stimme war beinahe bissig. Gerade als er weitergehen wollte, spürte er, wie Nathaniel ihn am Arm ergriff und ihn festhielt. Entschieden schüttelte der Junge seinen Kopf. "Bitte, geht nicht weiter." Nun verdunkelte sich der Blick Vivreys. Was der Junge sich erlaubte, ging wirklich zu weit. Gerade wollte er zu einem Tadel ansetzen, als Nathaniel ihn losließ. Den Ausdruck auf Vivreys Gesicht erkennend, wich der Junge zurück und blickte kurz in die Richtung, in welche er vorhin gedeutet hatte. Ein Schatten huschte über das Gesicht des Kindes. "Verzeiht, dass ich Euch aufgehalten habe", murmelte er und senkte den Blick, wobei sein leicht gewelltes, schwarzes Haar mit der einzelnen weißen Strähne vor sein Gesicht fiel. Etwas an dem Tonfall ließ Vivrey mit seinem Vorwurf innehalten und er blickte sich aufmerksam um. Er erkannte nichts Besonderes, doch jetzt, wo er sich darauf konzentrierte, spürte er eine gewisse Unruhe. Von einem unguten Gefühl getrieben, betrachtete der Heiler den Jungen, welcher ihn mittlerweile scheu unter seinem Haar hervor anschielte. "Und sie sollen unter ihnen wandeln und sie warnen vor den Gefahren des Styx'", murmelte der Ältere leise. Konnte es sein, dass Nathaniel eines dieser Kinder war, die die ungebundenen Seelen erkennen konnten? "Was hast du erblickt, Nathaniel Ayeth?" fragte er nachdenklich den anderen. Dieser strich sich schnell die dunklen Strähnen aus dem Gesicht und blinzelte sein Gegenüber an. "Ich weiß nicht, was es ist. Fast wirkte es wie einer der Schatten, doch irgendwie auch nicht. Ich weiß nur, dass es genauso böse ist wie die Nachtschatten." Für einen Moment, nachdem Nathaniel geendet hatte, herrschte Stille. Vivrey musterte den Jungen nun das erste Mal genauer. Kurz zögerte er, bevor er eine Frage stellte. Eine Vermutung keimte in ihm auf. "Wie alt bist du, Nathaniel Ayeth?" "Wa...?" Dieser war etwas überrumpelt von der Frage und legte verwirrt den Kopf ein wenig schief. "Ich bin acht Jahre alt", gab er dann zur Antwort. Langsam nickte Vivrey daraufhin. Vom Verhalten hätte er den anderen auf mindestens zehn Jahre geschätzt. Diese frühe Reife bestätigte seine Vermutung nur noch. Die wenigsten Jungen, welche die Seelen sahen, hatten eine lange Kindheit. Der Heiler wusste, was es bedeutete, wenn Nathaniel eines der Kinder des Hades war. Doch bevor er diesen Schritt in Betracht zog, musste der Junge noch einen Test bestehen. "Wo triffst du diese - wie nennst du sie gleich? - am häufigsten?" "Meint Ihr die Schatten, Meister? Die sind oft in der Nähe des Tempels und des Friedhofes." Vivrey seufzte. Nun war seine Einsiedelei vermutlich vorbei. Er musste dem Jungen zeigen, wie er seine Kräfte kontrollieren konnte. Nichts war gefährlicher, als ein Mensch, welcher nie gelernt hatte, die arkanen Mächte zu beherrschen. Ganze Dörfer waren auf diese Weise schon ausgelöscht worden. "Nathaniel?" Zum ersten Mal sprach der Heiler den Jüngeren nun mit dem Vornamen allein an. "Du sagtest, du lernst gerne?" Nun mehr als nur ein wenig verwirrt, nickte der Angesprochene. "Ja, Meister Vivrey." Er wurde nicht schlau aus dem Älteren. Mit der anfänglichen Abneigung und Kühle hatte Nathaniel sich schnell abgefunden, aber er konnte sich einfach nicht erklären, warum Vivrey nun mit einem Mal so verändert wirkte. "Gut." Der Heiler lächelte ein wenig. "Hättest du Interesse, etwas zu lernen, was Geran dir niemals wird beibringen können?" Bei diesen Worten leuchteten die Augen Nathaniels auf. "Etwas, was er nicht kennt?" Vivrey nickte und Nathaniel begann zu grinsen. "Natürlich möchte ich!" In diesen Momenten wirkte der Junge tatsächlich wie ein Achtjähriger. Leise lachte Vivrey. Vielleicht hatte er sich in dem Dorf getäuscht. "Gut, dann sollten wir schnell einen sicheren Weg zu den kranken Ochsen finden. Dort wird dein Unterricht beginnen." Bevor er weitersprechen konnte, kam dem Älteren eine Idee. "Hältst du es für möglich, dass der Schatten für das Schwarzfieber verantwortlich ist?" Nathaniel nickte kurz auf diese Frage. "Ja, aber das ist kein Schatten. Schatten sind nett. Sie spielen manchmal mit mir." Er lächelte kurz und deutete in eine Richtung. "Dort entlang ist es sicher." Er machte eine Pause und wartete, dass Vivrey sich in Bewegung setzte. Sofort folgte er dem Älteren. "Was ist es eigentlich, was Ihr mir beibringen wollt, Meister Vivrey?" Der alte Mann lächelte leicht. "Das, Nathaniel, ist die Kunst des Heilens und die Grundlagen der arkanen Magie." Abrupt blieb der Junge stehen. "Magie?" fragte er ungläubig. Vivrey lachte leise. "Ja, denn du besitzt die Gabe und musst somit lernen, deine Fähigkeiten einzusetzen, wissen, wie die unsichtbare Macht, die in dir wohnt, zu bändigen ist." Nathaniels Augen funkelten bei diesen Worten fasziniert. Zitieren
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